Weniger als ein Viertel aller Marokkanerinnen hatten 2012 eine bezahlte Arbeitsstelle. Und viele der erwerbstätigen Frauen arbeiten unter prekären Bedingungen als Hausangestellte. Der Lohn reicht kaum aus, um sich selbst zu ernähren, geschweige denn, um eine Familie durchzubringen. Oft beginnen Mädchen bereits im Primarschulalter bei privilegierten Familien als "petite bonne" zu arbeiten; viele Frauen sind Analphabetinnen. Die Hauptverantwortung für den Lebensunterhalt liegt dennoch in bis zu einem Fünftel der Haushalte bei den Frauen.

Essaouira: Touristenziel und Armut

Die Provinz Essaouira gehört zu den ärmsten Gegenden Marokkos: 49 von 57 Gemeinden weisen eine Armutsrate von über 30 Prozent auf. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vom Tourismus profitiert nur eine kleine Minderheit. In der touristischen Kleinstadt Essaouira führt die cfd-Partnerorganisation Association Féminine de Bienfaisance El Khir (El Khir) eine Beratungsstelle, wo Frauen rechtliche, soziale und psychologische Unterstützung erhalten. Durch den direkten Kontakt stellte El Khir fest, dass die Notlagen der Frauen stark mit ihrer ökonomischen Abhängigkeit beziehungsweise mit ihrer Mittellosigkeit zusammenhängen. In der Beratungsstelle suchen Frauen Unterstützung, die täglich der Gewalt ihrer Männer oder Familie ausgesetzt sind, aber keinen Ausweg aus dieser Situation sehen; oder Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes plötzlich alleine für sich, ihre Kinder und eventuell noch die Eltern und Schwiegereltern aufkommen müssen; oder Frauen, die sich keine Schulbildung leisten konnten und sich nur mit Gelegenheitsjobs oder im Sexgewerbe finanziell über Wasser halten können.
Zum Beispiel Fatima Abrouki*: Bereits einen Monat nachdem Fatimas Vater sie verheiratet hatte, reichte er ihre Scheidung ein, weil er sich mit Fatimas Ehemann zerstritten hatte. Fatima Abrouki kehrte zu ihrer Ursprungsfamilie zurück, wo sie sich um den Haushalt ihrer Eltern und ihres Bruders mit seiner Familie kümmern musste. Ihr Vater und ihr Bruder verspotteten sie und sagten, sie sei zu nichts nütze. Ihr Bruder schlug sie oft. Wegen der physischen und psychischen Gewalt verliess sie ihre Familie, was ihr Vater nie akzeptierte. Über die Beratungsstelle von El Khir hörte sie von der Kochausbildung, die sie inzwischen abgeschlossen hat. Jetzt ist sie Mitglied einer von El Khir unterstützten Frauenkooperative und arbeitet in einer Pension in Essaouira. Fatima hat einen Arbeitsvertrag und gute Arbeitsbedingungen. Sie erzählt: "Heute bin ich eine andere Person. Ich bin glücklich, dass ich eine Arbeit gefunden habe. El Khir hat mir geholfen, an meine Fähigkeiten zu glauben und Selbstvertrauen zu finden."

Tochter, Schwester, Mutter, Frau von …

In der marokkanischen Gesellschaft wird eine Frau hauptsächlich als Tochter des Vaters, Frau des Mannes, Mutter des Kindes, Schwester des Bruders angesehen. Sie ist zuständig für das Wohl der Familie innerhalb der Familie. Egal wie gern oder ungern, freiwillig oder unfreiwillig die Frauen diese Rolle übernehmen, sie bleiben ökonomisch und somit auch sozial abhängig. Weil Frauen überwiegend unbezahlte, zeitintensive Haus- und Familienarbeit leisten, während Männer ausser Haus bezahlter Arbeit nachgehen, werden die Geschlechterdiskriminierungen noch verstärkt. Fällt das Erwerbseinkommen des Mannes weg, beispielsweise durch Tod, Trennung, Scheidung oder Migration, und springt die Grossfamilie nicht ein, steht die Frau oft vor grossen Problemen, wie die Geschichte von Fadma Hourmat* zeigt.
Fadma Hourmat hatte sehr früh geheiratet. Mit 40 Jahren wurde sie Witwe. Plötzlich war sie mit sieben Kindern zwischen zwei und zwanzig Jahren auf sich allein gestellt. Auf diese riesige Verantwortung war sie nicht vorbereitet. Sie hatte kein Einkommen, keine Berufserfahrung, sprach nur wenig Arabisch und kein Französisch, da ihre Sprache Berberisch ist. Fadma Hourmat wollte unbedingt einen Beruf erlernen und wandte sich an El Khir. Sie sagt über ihre Zeit bei El Khir: "Ich habe nicht nur einen Beruf erlernt, sondern erlebte bei El Khir auch viele glückliche Momente, die mir halfen, die grosse Verantwortung zu tragen. Bei El Khir habe ich wieder Sinn in meinem Leben gefunden." Fadma Hourmat verdient heute den Lebensunterhalt für sich und ihre sieben Kinder durch Patisserie-Aufträge, die sie in ihrer eigenen Küche ausführt. Bei El Khir lernt sie weiterhin Französisch, was ihr in der Touristenstadt Essaouira eine grössere Kundschaft verschafft.
Die ökonomische Abhängigkeit von den Männern erschwert den Frauen zudem, sich aus gewalttätigen Verhältnissen zu lösen. Auch beim Erbrecht werden die Frauen benachteiligt und das dürftige staatliche Sozialwesen federt Notlagen, wie beispielsweise diejenige von Fadma, nicht genügend ab.

Meisterstück: Galadiner

Dank der Berufsbildung und Begleitung von El Khir können Frauen trotz aller Widrigkeiten im Erwerbsleben Fuss fassen. Die Ausbildungslehrgänge in Kochen, Patisserie, Hotellerie und persönlicher Betreuung werden von qualifizierten Lehrpersonen unterrichtet und schliessen mit staatlich anerkannten Diplomen ab. Zu jedem Lehrgang gehört ein Praktikum im lokalen Gastgewerbe. Allgemeine Fächer wie Arabisch, Französisch, Kommunikation und Konfliktlösung bereiten die Teilnehmerinnen ausserdem auf den Arbeitsalltag vor. Die ständige Evaluation der Berufsbildung unter Beteiligung der Teilnehmerinnen, ArbeitgeberInnen, Ausbildenden und dem Team von El Khir trägt wesentlich zum Projekterfolg bei. Abschliessender Höhepunkt bildet jeweils das Galadiner, bei dem die diplomierten Frauen den ArbeitgeberInnen der Tourismusbranche ihr Können unter Beweis stellen.
Die Projektleiterinnen von El Khir wissen, dass es, um eine einmal gefundene Arbeitsstelle auch behalten zu können, mehr als fachliches Können braucht. Die meisten Projektteilnehmerinnen standen noch nie in einem formalen Arbeitsverhältnis. El Khir vermittelt den Frauen, welches Verhalten im Arbeitsalltag von ihnen erwartet wird. Sie stärken die Frauen in ihrem Selbstwertgefühl, diskutieren Arbeitsrecht und Frauenrechte mit ihnen. Die Frauen werden im Umgang mit ArbeitgeberInnen und Gästen geschult, sie lernen Arabisch und Französisch.
El Khir steht in regelmässigem Kontakt mit Personalverantwortlichen in Hotels, Restaurants, Hamams, Bäckereien und Cafés und sensibilisiert diese für die Situation der arbeitsuchenden Frauen und für faire Arbeitsbedingungen. Die Erfahrungen und Bedürfnisse der potenziellen ArbeitgeberInnen lässt El Khir in die Ausbildung einfliessen. Während der Praktika begleitet El Khir die Absolventinnen und steht oft nach Ausbildungsabschluss weiter in Kontakt mit den Absolventinnen und ihren ArbeitgeberInnen. Manchmal übernimmt El Khir eine Mediationsrolle, um zwischen beiden Parteien zu vermitteln und auf ein langfristiges und erfolgreiches Arbeitsverhältnis hinzuarbeiten.
Erfreulich ist, dass El Khir 2014 von einer lokalen Organisation grössere Räumlichkeiten und von in- und ausländischen Geldgebern mehr finanzielle Unterstützung erhalten hat. Dies ermöglicht ihnen, die Kinder der Projektteilnehmerinnen zu betreuen. Für viele Frauen ist dies eine wichtige Voraussetzung, damit sie überhaupt eine Ausbildung machen und später arbeiten können.

Geschäftsidee Patisserie-Lieferservice

"Ich habe nicht nur einen Beruf erlernt, sondern erlebte bei El Khir auch viele glückliche Momente. Bei El Khir habe ich wieder Sinn in meinem Leben gefunden."
Ehemalige Projektteilnehmerinnen haben sich zu Kooperativen zusammengeschlossen, die von El Khir unterstützt werden. Frauen, die wegen Kindererziehung, Altenpflege oder aus anderen Gründen nicht Vollzeit arbeiten können, ermöglicht das Arbeiten in der Kooperative, ihre Arbeitszeiten flexibler zu gestalten. In der Kochkooperative zum Beispiel bieten sie gemeinsam Catering von Menüs und Backwaren an. 2014 publiziert die Kochkooperative ein Kochbuch mit Rezepten und Porträts der Köchinnen. Dadurch vermarkten sie ihr Angebot, erwirtschaften Einnahmen und sensibilisieren für die Situation von Frauen.
Letztes Jahr besuchte eine Gruppe einer französischen Behindertenorganisation Essaouira. Sechs Frauen der Kochkooperative haben für diese BesucherInnen gekocht, Aktivitäten mit den behinderten Menschen unternommen und sich mit ihnen angefreundet. Zum Dank sind sie nun nach Frankreich eingeladen und setzen den Austausch mit der Behindertenorganisation fort. Die sechs Köchinnen freuen sich sehr auf diese Reise, die sie sich allein durch ihr Engagement in der Kooperative erarbeitet haben.

cfd-Projekte in Marokko

Mit dem Schwerpunkt Berufsbildung für Frauen leistet El Khir vor allem ökonomisches Empowerment. Mit den anderen beiden Partnerorganisationen in Marokko, Féderation de la Ligue Démocratique des Droits des Femmes FLDDF und Association El Amane pour le Développement de la Femme, arbeitet der cfd primär in den Bereichen Schutz vor Gewalt und Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt. Die FLDDF und El Amane setzen sich zudem auf politischer Ebene stark für Frauenrechte ein. So ergänzen sich die drei cfd-Partnerorganisationen in Marokko ideal. Alle drei sind aktiv in marokkanischen Frauenrechtsnetzwerken, die sich für die Stärkung der Rechte und der Partizipation von Frauen einsetzen.
El Khir arbeitet mit vielen lokalen und internationalen Akteuren zusammen und ist sehr am Austausch interessiert. Der cfd unterstützt und begleitet auch die institutionelle Entwicklung von El Khir. Inhaltlich wie auch als Organisation hat sich El Khir in kurzer Zeit stark weiterentwickelt. Die vielen Erfolgsgeschichten zeugen von der Kreativität, dem Mut und dem Durchhaltewillen der Teamfrauen und der Teilnehmerinnen.
* Nachnamen geändert