Marrakesch: Eine Stadt wird Opfer ihres Erfolgs
Wer Marrakesch einige Jahre nicht mehr besucht hat, dürfte Mühe haben, die Stadt wiederzuerkennen. Das fängt beim Flughafen an, der von Grund auf erneuert und stark vergrössert wurde. Die Strasse vom Flughafen in die Stadt ist von Palmen und gepflegten Gartenanlagen gesäumt; entlang der gut unterhaltenen Stadtmauern erstrecken sich Blumenbeete so weit das Auge reicht. In der Altstadt fallen schliesslich die vielen neu renovierten Häuser und die – im Vergleich zu früher – deutlich besser unterhaltenen Strassen auf.
Die neue heimliche Hauptstadt
Marrakesch boomt. Am augenfälligsten ist dies in der neuen Bauzone, die sich zwischen dem königlichen Agdal-Garten und dem südlichen Rand des Nobelquartiers Hivernage erstreckt. Wo sich noch vor kurzem eine weite Steppe und Olivenhaine ausdehnten, wird gegenwärtig ein vollkommen neues Quartier mit Hunderten von Villen und Appartementhäusern sowie Dutzenden von neuen Hotels aus dem Boden gestampft. Die Hauptachse, welche das neue Quartier erschliesst, heisst „Avenue Mohamed VI“; es dürfte schon bald der mit Abstand prächtigste Boulevard ganz Marokkos werden. Viele Beobachter erblicken darin ein deutliches Zeichen, dass der gegenwärtige König aus Marrakesch ein Aushängeschild, ja vielleicht gar die heimliche Hauptstadt machen möchte.
Auch die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. So sind seit Anfang der 90-er Jahre rund 1’000 Hofhäuser und Stadtpaläste an Ausländer verkauft worden. Diese haben die alten Häuser renoviert und darin zum Teil äusserst luxuriöse Ferienresidenzen eingerichtet. Nicht wenige dieser Neuzuzüger betreiben in den Altstadthäusern aber auch „Maison d’hôtes“, welche eine zunehmende Konkurrenz für die regulären Hotels darstellen. Noch mehr Liegenschaften und Grundstücke sind ausserhalb der Altstadt in fremde Hände übergegangen. Insgesamt sollen nach den Schätzungen eines Kenners in Marrakesch in den letzten 15 Jahren 19’000 Altstadthäuser, Villen, Appartements oder Grundstücke an Ausländer verkauft worden sein. Stark angestiegen ist auch die Anzahl der Betten ins Hotels, in der Parahotellerie und in den „Maison d’Hôtes“ in derselben Periode. Allein zwischen 2000 und 2005 ist die Bettenkapazität jährlich um rund 7 Prozent gewachsen, und diese Wachstumsrate soll in den kommenden Jahren gar noch überschritten werden. Dasselbe gilt für die Zahl der touristischen Übernachtungen, die im Zeitraum von nur drei Jahren von 5,3 Millionen (2005) auf 11,6 Millionen (2008) mehr als verdoppelt werden soll. Marrakesch ist mit Abstand zur wichtigsten Tourismusdestination des ganzen Landes geworden geworden.
Vom Jet-Set als Traumdestination entdeckt
Marrakesch ist es dabei vor allem gelungen, was viele Ferienorte rund ums Mittelmeer vergeblich versucht haben: sich im obersten Segment des hart umkämpften Marktes zu etablieren. Die Stadt verkauft sich heute als orientalische Traumdestination und zieht eine gehobene Kundschaft an, die bereit ist, für ein Hotelzimmer und andere touristische Leistungen annähernd europäische Preise zu bezahlen. Dem Geschäft nur förderlich dürfte der Umstand sein, dass Marrakesch in den letzten Jahren zunehmend vom „Jet-Set“ entdeckt worden ist und dass sich Filmsstars, Finanzadel und Neureiche in der Stadt ein „Pied-à-terre“ erworben haben.
Das ist zuerst einmal eine Erfolgsgeschichte. Keine andere Stadt in ganz Nordafrika – und weit darüber hinaus – kann es in dieser Hinsicht mit Marrakesch aufnehmen. Die positiven Folgen für die Wirtschaft der gesamten Region sind offensichtlich.
Ausverkauf der Heimat
Doch diese Erfolgsgeschichte hat ihre Schattenseiten. Einer, der seit Jahren auf die problematischen Aspekte dieses Booms aufmerksam macht, ist der Ökonom und Historiker Mohamed El Faiz, der an der Universität Marrakesch unterrichtet. El Faiz hat vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er die Gefährdung des „patrimoine“, des kulturellen Erbes der Stadt thematisiert **. Diese Bedrohung, so erklärt El Faiz im Gespräch, sei heute keineswegs gebannt. Es schmerze ihn sehr, wenn er sehe, wie mit dem kulturellen Erbe seiner Stadt umgegangen werde. „In unserer Stadt gibt es überhaupt keinen Respekt vor diesem kulturellen Erbe, das international höchste Wertschätzung geniesst“, sagt El Faiz. Zwar sei Marrakesch gleich zweifach auf der UNESCO-Liste der Weltkulturgüter eingetragen. Doch für die Verantwortlichen besitze das kulturelle Erbe einen „äusserst geringen Stellenwert“, und in ihrer Optik zählten heute allein Investitionen, der Tourismus und die Öffnung nach aussen hin.
Die Kritik von El Faiz zielt dabei in verschiedene Richtungen. Zum einen wirft er den Behörden von Marrakesch vor, sie hätten keinerlei Anstrengungen unternommen, um den Boom auf die Altstadthäuser, der anfangs der 90-er Jahre eingesetzt hat, in geordnete Bahnen zu lenken. Vor allem hätten es die Behörden unterlassen, die wertvollen „Riads“ – Hofhäuser mit Innengärten – zu inventarisieren und auf ihre Schutzwürdigkeit hin zu überprüfen. „In den letzten Jahren hat man in Marrakesch den privaten Hausbesitzern praktisch freie Hand gelassen“, sagt El Faiz. Auf solche Weise seien Meisterwerke der städtischen Wohnarchitektur verloren gegangen. Genau genommen habe die Medina durch all diese Umbauten, durch all die neuen Konstruktionen aus Stahlbeton ihren Charakter vollkommen verloren.
Erhalt oder Verschandelung der Medina?
Dass El Faiz’ Aussagen nicht aus der Luft gegriffen sind, lässt sich am besten aus der Perspektive der Dachterrassen feststellen, deren Zauber Elias Canetti in seinem berühmten Werk „Die Stimmen von Marrakesch“ festgehalten hatte. Heute, 50 Jahre später, hat sich die Dachlandschaft vollkommen verändert, und die Veränderungen sind dramatisch. Die meisten Häuser sind um ein oder zwei Stockwerke und durch zusätzliche Aufbauten aus Holz oder Metall erhöht worden. Die neu hochgezogenen Mauern bestehen dabei meist aus unverputzten Backsteinen, die sich als hässliche Fremdkörper von den ockerfarbenen alten Mauern abheben. Viele Innenhöfe sind zudem mit Konstruktionen aus Plexiglas oder Blech überdeckt worden, und unzählige Parabolantennen sowie andere technische Installationen tragen das Ihre dazu bei, die einst legendäre Sicht auf den Hohen Atlas zu beeinträchtigen.
El Faiz› Ansichten sind in Marrakesch nicht unumstritten. Manche betrachten ihn als Puristen und Akademiker, der von bautechnischen Problemen wenig versteht und die Bedürfnisse der heutigen Bewohner der Medina ignoriert. Viele Kenner der Verhältnisse halten dem entgegen, dass die touristische Umnutzung der baufälligen Altstadthäuser die einzige Möglichkeit war, diese Häuser und damit auch ganze Teile der Medina zu retten. Zu ihnen gehört der Architekt Abdellatif Ait Ben Abdallah. Er zählt zu den Pionieren in der Branche und besitzt heute ein Unternehmen, das sich auf die Restaurierung, den Verkauf und die Vermietung von Altstadthäusern spezialisiert hat. Daneben hat Ait Ben Abdallah in einem der ältesten Häuser der Altstadt ein kleines Kulturzentrum namens „Dar Cherifa“ ins Leben gerufen.
Ait Ben Abdallah stellt nicht in Abrede, dass es im Zusammenhang mit dem Verkauf und der touristischen Umnutzung von Altstadthäusern Missbräuche gegeben hat. Doch er ist überzeugt davon, dass die Bilanz gesamthaft dennoch positiv ausfällt. Mitte der 80-er Jahre seien die meisten alten Riads in einem äusserst baufälligen Zustand gewesen, und der marokkanische Staat beziehungsweise die privaten Eigentümer hätten nie über die finanziellen Mittel verfügt, um diese Hofhäuser zu renovieren. Die neuen Besitzer hätten diesen Altstadthäusern wieder Leben verliehen, sagt Ait Ben Abdallah, und dadurch nicht zuletzt auch wichtige Impulse in der Altstadt ausgelöst.
Weshalb aber ist die Medina von Marrakesch in den letzten Jahrzehnten nicht besser geschützt worden? Fehlten die entsprechenden Gesetze und Vorschriften, oder wurden sie ganz einfach nicht angewendet? Die Behörden hätten oft weggeschaut und sich kaum für die Probleme der Altstadt interessiert, erklären El Faiz und Ait Ben Abdallah sinngemäss, und Prozesse gegen illegale Bautätigkeit seien oft im Sand verlaufen. Andere Kenner der Verhältnisse werden konkreter: Bewilligungen für Umbauten liessen sich bis heute praktisch kaufen, und die staatlichen Organe, welche die Einhaltung von Bauvorschriften kontrollieren müssten, seien in den meisten Fällen untätig.
Eine nicht unwesentliche Rolle scheint in diesem Zusammenhang der Umstand zu spielen, dass es in Marrakesch keine einzige unabhängige Nichtregierungsorganisation gibt, die sich für die Erhaltung des kulturellen Erbes der Stadt einsetzt. Ait Ben Abdallah und El Faiz machen dafür das fehlende Bewusstsein der Einwohner von Marrakesch für ihr „patrimoine“ verantwortlich. In den letzten paar Jahren scheint sich nun aber eine Trendwende abzuzeichnen. Bereits sind einzelne zukunftsweisende Projekte realisiert worden. So wurden unlängst einige der schönsten alten Karawansereien restauriert und in ihrer gegenwärtigen Nutzung erhalten.
Massiver Anstieg der Mieten und Lebenshaltungskosten
Mohamed El Faiz bleibt dennoch skeptisch. Zwar würden sich die Stadtbehörden von Marrakesch in letzter Zeit vermehrt für die Medina interessieren. Doch er habe den Eindruck, dass viele der Infrastrukturarbeiten und Projekte in erster Linie den europäischen Riadbesitzern zu Gute kämen, der ansässigen Bevölkerung aber kaum etwas bringe. Dabei wäre genau dies äusserst wichtig, moniert El Faiz, denn in der Altstadt von Marrakesch gebe es immer noch ein riesiges Armutsproblem.
Und El Faiz formuliert ganz offen, was in den Cafés und auf den Strassen von Marrakesch täglich zu hören ist: Vom Boom der Riads in der Medina und von den beeindruckenden Wachstumsraten des Tourismus in Marrakesch profitieren heute nur wenige. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung, so führt El Faiz weiter aus, habe stattdessen mit einem massiven Anstieg der Lebenshaltungskosten und vor allem der Wohnungsmieten zu kämpfen.
Von offizieller Seite wird hingegen auf die positiven Beschäftigungseffekte hingewiesen. In der Tat haben unzählige Handwerker bei der Restaurierung von Altstadthäusern Arbeit gefunden, und in den neu geschaffenen „Residenzen“ und „Maison d’hôtes“ dürften einige tausend Menschen zumindest eine Teilzeitanstellung gefunden haben. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, wie gut beziehungsweise schlecht all diese Arbeitskräfte entlöhnt werden.
Unübersehbar ist schliesslich, dass sich in den letzten Jahren die Stimmung gegenüber den Europäern, die sich in der Medina von Marrakesch installiert haben, deutlich verschlechtert hat. Immer mehr „Marrakchis“ machen ihrem Missmut über den „Ausverkauf“ ganzer Gassen innerhalb der Medina und über die Verhaltensweisen der neuen Riad-Bewohner Luft. Zum Malaise tragen auch die neuen Restaurants und Clubs bei, welche in den letzten paar Jahren mitten in der Medina eröffnet worden sind. Einige Beobachter halten diese Ressentiments gegenüber den Europäern für sehr beunruhigend und befürchten, dass die Islamisten von diesem Unmut profitieren könnten.
Ungelöstes Wasserproblem
Die Kritik von Mohamed El Faiz bezieht sich nicht nur auf den Umgang der Behörden von Marrakesch mit dem architektonischen Erbe, sondern auch auf die Zerstörung eines grossen Teils der ehemaligen Gärten und Grünanlagen. Der Entscheid der Stadtregierung, die legendäre Palmenoase Anfangs der 90-er Jahre zur Überbauung freizugeben, erachtet El Faiz gar als „grössten Irrtum“, der in Marokko in den Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit begangen worden sei. Heute ist ein grosser Teil der Palmenhaine zum bevorzugten Wohngebiet der Reichen und Superreichen geworden. Während die eingezonten Gebiete zu prachtvollen Parkanlagen verwandelt worden sind, wird die bisher unbebaute Fläche zunehmend zum Ödland.
Das grösste Problem, mit dem Marrakesch aber in Zukunft konfrontiert sein dürfte, ist nach Ansicht vieler Beobachter die Wasserversorgung. Schon heute, so berichtet ein Universitätsprofessor, kommt es Marrakesch in den heissen Sommermonaten, regelmässig zu Wasserknappheit. In gewissen Quartieren und in den oberen Stockwerken mehrstöckiger Gebäude fliesst dann während Stunden kein Wasser mehr aus den Hahnen.
Dennoch expandiert der Tourismus gegenwärtig in einem Schwindel erregenden Ausmass. Dutzende neuer Hotels, Hunderte von Villen, Tausende von Appartements sind geplant oder bereits im Bau. Praktisch alle diese Projekte verfügen über grosse Gartenanlagen, Rasenflächen und Schwimmbäder, manche gar über eigene Golfplätze. All diese touristischen Projekte – vor allem aber die Golfplätze – werden den Wasserverbrauch von Marrakesch gewaltig ansteigen lassen.
Von offizieller Seite wird das Problem der Wasserversorgung heruntergespielt. Neue Wasserfassungen und Staubecken im Hohen Atlas – eines davon wurde erst kürzlich eingeweiht – sowie weitere Tiefenbohrungen sollen in Zukunft die Wasserversorgung von Marrakesch sicherstellen. Detaillierte Auskünfte waren allerdings vom zuständigen staatlichen Amt, „Office National de l’Eau Potable“ (ONEP), auf Anfrage keine zu erhalten. Klar ist aber, dass in Zukunft auch gereinigtes Abwasser zur Bewässerung von Gärten und Golfplätzen verwendet werden soll. Dies ist etwa im „Samanah Country Club“ der Fall, einem Projekt, hinter dem französische Investoren stehen. Geschäftsführer Didier Multon hat deshalb bezüglich seines Projekts keinerlei ökologische Bedenken, dies umso mehr, als nur 35 Hektar der gesamten Fläche mit Rasen bepflanzt würden, der Rest der Fläche hingegen mit Pflanzen, welche dem ariden Klima angepasst seien. Keine prinzipiellen Vorbehalte gegenüber derartigen Projekten hat auch der Bauingenieur Patrick Simon, der seit über 30 Jahren in Marokko lebt und gegenwärtig im Tourismus tätig ist. Sein Argument: Marokko verfüge gesamthaft gesehen über enorm grosse Wasserreserven, die erst zu einem kleinen Teil genutzt würden.
Zunehmende Verteilungskämpfe zu befürchten
Viele Menschen in Marrakesch misstrauen solchen Prognosen. Und sie haben Angst, dass sie eines Tages die Zeche für diese Politik bezahlen müssen. Dazu kommt, dass ganz Nordafrika nach übereinstimmenden Prognosen in Zukunft mit mehr Dürreperioden rechnen muss.
Bedenken hat auch Mohamed El Faiz. All diese Tourismusprojekte seien problematisch wegen ihres hohen Wasserbedarfs. In Marrakesch sei der Wasserverbrauch in den letzten Jahren stark angestiegen, sagt El Faiz. Gleichzeitig sinke der Grundwasserspiegel Jahr für Jahr um rund einen Meter. Das sei beunruhigend, und es brauche dringend eine nationale Debatte darüber, wie die Wasserressourcen in Zukunft genutzt werden sollen. El Faiz befürchtet in Zukunft harte Verteilungskämpfe um die Ressource Wasser; dabei werde die Landwirtschaft gegenüber dem Tourismus wohl die schlechteren Karten haben. Dies wiederum hätte wohl eine weitere Zunahme der Landflucht zur Folge. Sollten all die geplanten Tourismusprojekte tatsächlich realisiert werden, so rechnet El Faiz zudem mit gravierenden ökologischen Problemen.
Allein schon aus diesem Grund fordert Mohamed El Faiz eine „klare Vision“, wie Marrakesch in Zukunft aussehen soll. Ob der Mahner im Getöse des Booms, den die „Perle des Südens“ gegenwärtig erfasst hat, auch gehört wird, steht auf einem anderen Blatt.
* Beat Stauffer ist freier Journalist und ausgewiesener Kenner Nordafrikas. Der Beitrag erschien in gekürzter Fassung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. Juli 2007; für weitere Verwendung ist die ausdrückliche Einwilligung des Autors erforderlich.
Buchhinweis:
**Mohamed El Faiz: Marrakech – patrimoine en péril. Actes Sud/Eddif