Basel, 02.11.2011, akte/ Seit über einem halben Jahr sind die 37 Jahre alte Maia Gut und der über vierzigjährige Filip Shiva Bellinger ein verliebtes Paar. Und nun will Maia heiraten – und Filip fühlt sich überrumpelt. Er, der "Filipisierer", als den ihn Maia oft sieht, der Filibuster oder Schwadronierer, der nicht recht weiss, wohin er gehört – der Vater aus Indien, der kurz nach der Zeugung wieder verschwand, die Mutter eine allein erziehende Arbeiterin mit dem verwirrend stilsicheren Auftreten einer Frau aus gutem Hause – packt seine Koffer und fliegt für eine Bedenkzeit nach London. In der Weltstadt, in der er möglicherweise gezeugt wurde, fühlt er sich zu Hause. Denn dort gehört das Fremde mit zur Identität. Der Blick auf Menschen anderer Kulturen wird in London in Frage gestellt, wenn man "nachtdunkle, in goldbortengesäumte Trachten gehüllte" Afrikaner dabei beobachtet, wie sie aus Luxuslimousinen steigen, oder Burka tragende Frauen, die verliebt ins Handy flüstern, den Mann in abgerissenen Kleidern, der die Times aus seiner Plastiktüte zieht.
Die Flucht vor dem wohl geordneten Leben, das ihn nach der Heirat mit der Tochter eines überaus erfolgreichen Händlers erwarten würde, am See mitten in den Bergen, führt ihn schliesslich zu "Helvis Tourism". Maia hat Verbindungen spielen lassen und Filip einen Job im Reisebüro verschafft, wo er Ferien in der Schweiz an Briten, Inder, Chinesen, Russen und Afrikaner verkaufen muss. "Nichts lügt schamloser als Reisekataloge – und nichts trifft die Wahrheit über unsere unterentwickelten Wünsche besser", stellt er beim Einarbeiten in die Kataloge fest – und fängt an, die Schweiz für seine Kundschaft neu zu erfinden. Er improvisiert einen Segeltörn am Seealpsee, ein Nudistencamp im Engadin, einen Deltaflug im Diemtigtal und das Geocoaching im Orbigtal, bis ihn sein Chef zur Ordnung ruft. Er muss sich eingestehen, dass er kein Verhältnis zu dem Land hat, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Für die Reisekundschaft packt er einen Koffer voller Wünsche, kann ihnen aber gar nicht aufzeigen, wie diese zu erfüllen wären.
Allmählich beginnt sich Filip mit sich und seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Etwa mit den schmerzhaften Erfahrungen, wie die Leute im Dorf über ihn und seine Mutter schlecht redeten, wie er von seinen Kollegen gehänselt wurde für seine "ausländische" Herkunft. Dabei taucht auch die Beklommenheit wieder auf, die mit den Überfremdungsinitiativen der Siebzigerjahre wohl alle "Ichweissnichtwohers" empfunden haben. Mit seiner Fantasie konnte er der Welt etwas entgegensetzen – und mit seiner ersten Liebe.
Bis kurz vor Ende des Buches bleibt die Frage offen, ob Filip sich schliesslich doch noch auf Maia und das gesetzte, wohlgeordnete bürgerlichen Leben, das die Ehe mit ihr verspricht, einlassen wird, oder ob der Fluchtinstinkt siegt. Dabei nimmt die Spannung zu, ebenso der Druck von Maia auf Filip, sich endlich zu entscheiden.
"Ein Koffer voller Wünsche" lebt von der Virtuosität seiner Sprache, vom hintergründigen Witz und dem ironischen und doch so liebevollen Blick auf andere Menschen, auf schräge Gegebenheiten und auf den Dschungel von Halbwahrheiten, in dem es schwer fällt, so etwas wie die eigene Wahrheit zu finden. Wie schon in Deans wunderbarem Roman "Meine Väter" ist dabei auch die Suche nach dem Erzeuger eine treibende Kraft. Eine urkomische und anregende Lektüre, bei der gerade auch die Betrachtungen über die Arbeit im Reisebüro manchen wohltuenden Lachanfall bescheren.

Martin R. Dean: Ein Koffer voller Wünsche. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2011, 288 Seiten, CHF 31.50, Euro 22.,  ISBN 978-3-902497-92-5


An der BuchBasel, die vom 18.-20. November 2011 an der Messe Basel veranstaltet wird, liest Martin R. Dean zwei Mal aus "Ein Koffer voller Wünsche":
Freitag, 18.11.2011, 11.30 Uhr und
Sonntag, 20.11.2011, 14.30 Uhr, jeweils  im Literaturforum (Messehalle 4.1). Informationen unter www.buchbasel.ch