Basel, 20.01.2011, akte / Ildikò und ihre Schwester Nomi wünschen sich, dass alles so bleibt, wie es immer war: Die liebenswerte und lebenskluge Mamika tischt Hühnergulasch auf, die Nachbarin Juli ist irre, das Traubisoda schmeckt wie eh und je, die Schweine und Hühner sind noch auf dem Hof und die Verwandtenbesuche nehmen kein Ende. Die Ferien in der alten Heimat, der Vojvodina im ehemaligen Jugoslawien, sind so idyllisch, die Feste so rustikal und die Männer so trinkfest, wie man sich das Klischee nicht urchiger vorstellen könnte.
Doch die Heimat beginnt sich aufzulösen: In der Vojvodina ist die Familie Kocsis mit ihrem Mercedes und den zu schönen Kleidern nicht mehr wie die anderen, Vater und Onkel politisieren nach Titos Tod aggressiver als sonst, in der Schweiz sind die Kocsis "Jugos", obwohl sie zur ungarischen Minderheit in Serbien gehören. Als schliesslich der Krieg ausbricht, ist es vorbei mit den Besuchen, Schuldgefühle ihren Verwandten gegenüber plagen die Familie.

Dabei hat Familie Kocsis auch so genug am Hals: Die Einwandererfamilie hat es endlich geschafft, ein Café am Bahnhof einer Zürichseegemeinde zu übernehmen. Die ganze Familie muss ran: Der Vater kocht, die Mutter organisiert, die Töchter servieren. Der Laden läuft, doch vor allem Ildikò hält das überangepasste Migrantinnenleben fast nicht aus: Nett lächeln, die Neugierde der Schweizer Gäste ertragen, fremdenfeindliche Anspielungen überhören, nicht an die kriegsgeplagte Verwandtschaft denken. Als schliesslich ein Gast die Wand der Herrentoilette mit Exkrementen beschmiert, wirft Ildikò den Bettel hin und emanzipiert sich von der Angepasstheit und Demut ihrer Familie.

In "Tauben fliegen auf" erzählt Ildikò von ihrer Familie, ihrer Heimat in Serbien und dem Leben in der Schweiz. Sie zeigt dabei, was es für die verschiedenen Generationen bedeutet, sich einzuleben – und wie nachvollziehbar, absurd und demütigend es sein kann, schweizerischer werden zu wollen als die Schweizer. Und vor der chaotischen Kulisse des Jugoslawienkrieges kriegt Ildikò die politischen Auseinandersetzungen als das zu fassen, was sie sind: nicht hinnehmenbare Definitionen der familiären und persönlichen Beziehungen durch die Politik.

Melinda Nadj Abonji erzählt in langen Sätzen. Direkt und greifbar sind die Gefühlslagen der Protagonistin, nachvollziehbar der Alltag der Migrantenfamilie. Spannung schaffen die Rückblicke, in denen Familiengeschichten erzählt werden, was wiederum Verständnis für die Handlungen der Familienmitglieder im Jetzt weckt. Der Roman beruht zwar auf den Erfahrungen von Melinda Nadj Abonji – auch sie kam als Mädchen in die Schweiz, wo ihre Eltern sich abstrampelten, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen – abgeschrieben vom eigenen Leben ist der Roman dennoch nicht. Trotzdem könnte ihr schriftstellerischer Erfolg, der sowohl vom Deutschen als auch vom Schweizer Buchpreis gekrönt wurde, eine passende Fortsetzung ihres Buches sein: Wie die aus einer Arbeiterfamilie stammende Nadj Abonji schlägt auch Ildikò schliesslich einen anderen Weg ein als den bereits vorgespurten.
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf, Verlag Jung und Jung, 320 Seiten, Fr. 30.70, Euro 22.-, ISBN-10:3-902497-78-5