Menschen können den Hunger sofort beseitigen
Nach den Schrecken des 2. Weltkrieges verpflichteten sich die Staaten auf die "Deklaration der Menschenrechte". Erst 1966 wurde gegen die Schrecken des Hungers auch das Recht auf Nahrung verankert. Warum so spät?
Erst mit der Entkolonialisierung verschafften sich die Länder des Südens Gehör. Sie betonten ihre Probleme, dass die Leute verhungern, kein Wasser und keine Schulbildung haben und ihnen noch viele andere soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte fehlen. Entsprechend wurden die Menschenrechte der zweiten Generation formuliert.
Menschenrechte bleiben ohne minimale Lebensgrundlagen Theorie. Dennoch sperrten sich die westlichen Staaten dagegen, allen voran die USA und andere Mächte des Westens. Sie beherrschen die Weltmärkte – und mit ihren Konzernen die Länder des Südens. Dahinter steckt eine grosse Lüge, die Behauptung, dass es gar kein Recht auf Nahrung geben kann: Einzig der Markt sichere die Produktion und Verteilung von Gütern, so die neoliberale Ideologie.
Dabei gäbe es genug Essen für alle?
Wir sind heute etwas mehr als sieben Milliarden Menschen auf dem Planeten. Die heutige Landwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Aber der Zugang zum nötigen Essen fehlt für viele. Noch immer bildet Hunger die bei weitem grösste und brutalste Todesursache. Eine Million Menschen verhungert jedes Jahr – ein Skandal. Und noch immer stirbt jede fünfte Sekunde ein Kind unter zehn Jahren an Hunger – ein schrecklicher Tod.
Dagegen engagieren Sie sich, bis 2008 acht Jahre als UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, seither im Menschenrechtsrat und als Autor. Was motiviert sie?
Einmal weiss ich, dass uns einzig der Zufall der Geburt von den Opfern trennt. Verhungernde könnten meine Mutter oder mein Sohn sein. Georges Bernanos schreibt: "Gott hat keine anderen Hände als die unseren" und Kant schreibt, "Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir". 3 Euro für ausreichende und vielfältigere Nahrung genügen, um bei einem Kind die schreckliche Hungerkrankheit Noma zu bekämpfen. Dieser Bazillus frisst wortwörtlich die Gesichter der Erkrankten von innen auf. Es ist absurd, dass hunderte von Milliarden für die Rettung von Banken ausgegeben, aber nicht die nötigen Gelder zur Überwindung des Hungers bereitgestellt werden.
In Ihrem Buch gehen Sie hart mit der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln ins Gericht. Wo müssen wir ansetzen?
Als die Finanzblase platzte, wandten sich die Börsenspekulanten den Nahrungsmitteln zu. Getreide sei wie Gold, hiess es, nur rentabler. Hedge Fonds und Grossbanken spekulieren an den Rohstoffbörsen. Die Preise der Rohstoffe steigen. Ganz legal werden astronomische Gewinne erzielt. Für die rund 1,2 Milliarden Menschen, die mit einem Dollar am Tag überleben müssen, wirkt sich das jedoch fatal aus. Mais wurde 2012 beinahe zwei Drittel teurer, der Weizenpreis verdoppelte sich und der Preis für Reis aus den Philippinen schnellte von 120 auf 1100 Dollar je Tonne. Das können die Armen nicht bezahlen. Neben der Spekulation tötete die unsägliche Förderung von Agrotreibstoffen: Nahrungsmittel in den Tank statt in den Bauch.
Beide Skandale können sofort aus der Welt geschafft werden: Die Gesetze sind von Menschen gemacht. Also können wir schon morgen Spekulation und Agrotreibstoffe verbieten. Ganz konkret unterstütze ich darum die Juso-Initiative zum Verbot der Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln*.
Und die Rolle von Landraub oder "Land Grabbing" als Folge von Grossinvestitionen als Auslöser von Hunger und Elend?
"Ohne Land kein Brot", das Motto der ökumenischen Kampagne 2013 von Brot für alle, Fastenopfer und Partner Sein, trifft den Kern der Sache. Über 200 Millionen Hektar Boden ist von solchen Landgeschäften betroffen – fast immer eine intransparente und dubiose Sache, meistens in Verbindung mit Korruption. Zu lächerlichen Preisen wird Land für bis zu 99 Jahren vergeben. Regierungen und Grossbanken sind sich oft einig, es sei besser, die Entwicklung der Landwirtschaft in die Hände ausländischer Investoren zu legen. Es stimmt, die Produktivität in der Sahelzone zum Beispiel ist viel tiefer als im Emmental. 600 bis 700 Kilogramm Ernte in einem normalen Jahr im Sahel stehen 10’000 Kilogramm in der Schweiz gegenüber. Dennoch sind Grossprojekte die falsche Fährte.
Das betonen auch die Hilfswerke. Warum?
Gerade 3,8 Prozent der Fläche Schwarzafrikas ist künstlich bewässert. Der Rest ist Regenlandwirtschaft wie vor 3000 Jahren. Die uralten afrikanischen Bauerngesellschaften haben enormes Wissen. Sie kennen den Boden und tragen Sorge zu ihrer eigenen Lebensgrundlage und sie wissen um die meteorologischen Verhältnisse in ihrer Mikroregion. Aber es fehlt an gezielt selektioniertem Saatgut oder Hilfsmitteln: Unter den 54 Ländern Afrikas sind 37 reine Agrarstaaten. Diese verfügen über gerade einmal 80’000 Traktoren und 252’000 Zugtiere. Der Traum der Nahrungsmittelsouveränität wäre mit geringem zusätzlichem Mitteleinsatz zu verwirklichen. Die Lösung sind Familienbetriebe und nicht die Exportproduktion.
Das heisst, um den Hunger zu überwinden, brauchen wir andere Strukturen?
Ja. Materielles Glück für alle ist heute möglich – aber, wie schon Gandhi gesagt hat: "Die Erde hat genug für jedermanns Bedarf, aber nicht für jedermanns Gier." Heute entscheiden Konzerne darüber, wer isst und lebt und wer hungert und stirbt. Das Problem ist heute eher der Zugang zur Nahrung – also Kaufkraft – und nicht mehr die Produktion. Der langjährige Leiter von Nestlé, Peter Brabeck, ist eigentlich ein anständiger Mensch – doch jagt er nicht zugunsten der Aktionärinnen und Aktionäre dem "ROI" nach, der Rendite auf dem Kapital der Unternehmung (Return on Investment), wird er schnell abgesetzt. Konzerne stecken im Hamsterrad der Profitmaximierung. Doch diese strukturelle Gewalt kann gebrochen werden. Schon heute zeigen sich überall Risse in dieser Struktur.
Dafür gibt Ihr Buch mit vielen Fakten und Details genügend Anstoss. Oder werden wir gelähmt?
Mein Buch ist ein Buch der Hoffnung. Es zeigt, dass Hunger von Menschen gemacht ist – also kann er auch schon morgen von den Menschen aus der Welt geschafft werden. Die mächtigsten Konzerne der Welt befinden sich in den westlichen Ländern. Das sind alles Demokratien, also kann die Bevölkerung die Vorgaben ändern. Das gilt ganz konkret: Bundesrat Leuenberger hat das Zollprivileg für Agrodiesel in der Schweiz geschaffen. Erst dann gründete der französische Milliardär Gandur in Genf die Firma Addax Bioenergy und baut jetzt auf riesigen Flächen in Sierra Leone Zuckerrohr für die Benzintanks Europas an. Mein Buch zeigt das auf und darum ist es auch eine Waffe im Kampf gegen den Hunger. Wir alle, jeder einzelne, kann kämpfen. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Bekanntlich geht Nahrung nie zum Hunger, sondern zum Geld.
* Die eidgenössische Volksinitiative "Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln!" verlangt, dass der Bund Vorschriften zur Bekämpfung der Spekulation mit Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln erlässt. Finanzinstitute, Vermögensverwaltungen und institutionelle Anleger mit Sitz oder Niederlassung in der Schweiz sollen nicht in Finanzinstrumente investieren oder strukturierte Produkte verkaufen dürfen, die sich auf Agrarrohstoffe und Nahrungsmittel beziehen. Unterschriftenbögen sollten bis zum 18. September 2013 an die JUSO Schweiz gesandt werden.
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt. C.Bertelsmann Verlag, München 2012, 320 Seiten, CHF 29.90, EUR 19.99, ISBN 978-3-570101-26-1