«Mich freut das Wachstum des Wanderns als Freizeitaktivität»
Jon Andrea Florin: Eine Aufwärmfrage: Wohin bist Du zuletzt gewandert?
Dominik Siegrist: Meine letzte grössere Wanderung führte vor ein paar Tagen vom Obergoms über den Griespass ins Pomatt. Im Bereich der Capanna Corno Gries lag noch soviel Schnee, dass auch eine Skitour möglich gewesen wäre. Meine letzte ganz grosse Wanderung führte im Sommer 2023 in drei Monaten durch die Pyrenäen, vom Atlantik ans Mittelmeer. Darüber erscheint Mitte August das Buch «Pyrenäenwanderer».
Pyrenäenwanderer. Das Buch.
Die Pyrenäen sind zu grossen Teilen eine wilde und einsame Gegend, die Wege sind rau, steil und lang. Sie sind aber auch ein wunderschönes, in Natur, Kultur und Geschichte äusserst interessantes Gebirge, mit vielfältigen Gegenden von den grünen Vorgebirgen des Baskenlandes im Westen über die Dreitausender Aragóns und Kataloniens bis zu ihren östlichen Ausläufern am Mittelmeer. Im Sommer 2023 wanderte Dominik Siegrist mit Freunden während achtzig Tagen rund 1000 Kilometer durch die Pyrenäen vom Atlantik bis zum Mittelmeer – und dokumentiert diese einzigartige Tour in seinem neuen Buch, «Pyrenäenwanderer», das Mitte August im Haupt-Verlag erscheint.
JAF: Gegen das Wandern hat hierzulande niemand nichts. So wird denn auch immer mehr gewandert: 2007 wanderten gemäss Sport Schweiz 37% der Bevölkerung, 2013 44%, 2019 waren es 57%: Dich als Wachstumsskeptiker müssten solche Wachstumszahlen alarmieren – tun sie das?
DS: Wandern ist eine sanfte Freizeitaktivität, es ist naturnah, gesund und hat wenig negative Auswirkungen auf Natur und Landschaft. Zudem besitzt das Wandern eine soziale Komponente, weil die Wandernden dank der Langsamkeit ihrer Fortbewegung mit Land und Leuten in Kontakt kommen und sich mit den Landschaften und deren Geschichte auseinandersetzen können. Darum freut mich das Wachstum des Wanderns als Freizeitaktivität, im Gegensatz zu anderen, nicht nachhaltigen Tourismusformen, wie der ebenfalls stark wachsende, klimaschädliche Flugverkehr. Das Wandern als Freizeitaktivität wächst übrigens nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen Ländern, beispielsweise in Deutschland.
JAF: Hmm – wenn das Wachstum so weitergeht, haben wir doch auf manchen Wanderwegen einen Dichtestress. Oder befürchtest Du das nicht? Andersrum: Dir bereitet es keine Sorgen, dass, wenn plötzlich alle in ÖV-Nähe wandern ginge, das zu viel des Guten wäre?
DS: Tatsächlich kann es in Wandergebieten zu erheblichen Besucheransammlungen kommen, das haben wir während Corona in einigen Bergdestinationen der Schweiz eindrücklich erlebt. Aber das ist immer noch kein Vergleich mit dem Dichtestress an einem Strand am Mittelmeer oder mit dem Overtourism in gewissen Touristenstädten. Die Wanderdestinationen verfügen über Möglichkeiten, die Besucherströme zu lenken, sodass sich nicht alle Wandernden auf Klassikern wie der Tour du Montblanc oder der Tour Monte Rosa-Matterhorn stauen. Sie können sich übrigens auch darum bemühen, dass möglichst viele Wandernde mit dem ÖV statt mit dem Auto anreisen. In vielen schönen Landschaften der Schweiz erlebe ich immer wieder Wandertage, an denen ich kaum einem Menschen begegne. Oder ich weiche ins europäische Ausland aus, wo es ebenfalls wunderbare und einsame Wandergebiete gibt.
JAF: Ich kann und will Dir nicht weiter widersprechen. Praktische Frage: Wie findest Du Deine Wanderziele?
DS: Die Weitwanderungen bereite ich von langer Hand vor, ich bespreche mich mit möglichen Mitwandernden, recherchiere mit Literatur, Karten und im Internet und tätige viele thematische Vorabklärungen. Das Pyrenäen-Projekt «PirPedes» beispielsweise entsprang meinem langjährigen Wunsch, einen Vergleich zwischen den Alpen (die ich zuvor zwei Mal längs durchwandert hatte) und diesem den Alpen verwandten höchst interessanten südwesteuropäischen Gebirge anzustellen. Die Schweiz-Durchquerung «Klimaspuren» entstand nach thematischen Kriterien: Zwischen Graubünden und Genf gab es über 70 Ortstermine zu Klimathemen.
Tages- und Wochenwanderungen entstehen oft spontan nach Lust und Laune oder auch nach Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen. Ich führe eine laufende Liste mit neuen Wanderideen, die ich nach und nach abwandere. Manchmal mache ich auch vor der Haustüre etwas Neues, kürzlich unternahm ich beispielsweise erstmals eine Wanderung über die gesamte Albiskette, von Sihlbrugg bis Urdorf.
JAF: Und bei der Schlussfrage kannst Du wählen: Entweder Deine Lieblingswanderung: Was zeichnet sie aus? Und welche ist es? Oder was fehlt nie in Deinem Rucksack? Proviant? Bücher? Sonnencrème? Ich wette, Du wählst den Rucksack…
DS: … falsch. Da hätte ich geantwortet: Bücher nie, dafür immer genug Wasser und ein Käsebrot. Meine Lieblingswanderung geht zur Cima Larie, ein Hausberg von Domodossola. Der einsame Pfad führt durch alle Vegetationsstufen hinauf bis in die felsige Zone über der Waldgrenze. Unten die alte, mit Ruinen und alten Getreideterrassen durchsetzte südalpine Kulturlandschaft mit Steineichen und Buchen, auf der Alpstufe liegt ein wunderbarer Lärchenwald, er ist derzeit voller Bergblumen. Vom Gipfelkreuz reicht die Aussicht vom Monte Rosa bis zum Lago Maggiore und ins Tessin.
Dominik Siegrist
Dominik Siegrist ist Geograf und Landschaftsplaner und wirkte während 25 Jahren als Lehrer, Forscher und Berater an der Hochschule für Technik in Rapperswil (heute OST). Er engagiert sich nach seiner Emeritierung weiterhin für Anliegen des Umwelt-, Klima- und Alpenschutzes. Seit Kindesbeinen in den Bergen und im Flachland zu Fuss und mit dem Velo unterwegs, verbindet er die Diskussion von aktuellen und drängenden Fragen unserer Zeit mit Ausflügen, Spaziergängen und Wanderungen.