Auf der Isla del Sol, so erzählt es die Legende, entstiegen einst die Kinder des Sonnengottes dem Wasser des Titicacasees. Sie sollten das Reich der Inka begründen und die Menschen einen, unter denen Zwietracht herrschte. Sie taten wie geheissen, doch die Geschichte nahm kein glückliches Ende: Jahrhunderte später sind von den Inka ein paar Ruinen geblieben und von der Harmonie nichts. Wachposten sitzen auf Pfaden, die sich durch malerisch terrassierte Hänge schlängeln, und auf Hügeln mit Traumblick auf das Blau des Sees. Die Wächter stellen sicher, dass keine Touristen passieren, weder zu Land noch zu Wasser. Inselbewohner haben sich in den letzten vierzehn Monaten mit Steinen und Dynamit beworfen, sich mit Fäusten und Holzlatten geprügelt. Es gab über ein Dutzend Verletzte und ein Todesopfer: Im Januar wurde eine koreanische Touristin erstochen aufgefunden. Der Polizei ist es nicht gelungen, den Fall aufzuklären. Auf der Insel vermuten die Konfliktparteien den Täter je in den Reihen des Gegners.
Das Drama spielt sich zwischen Challa und Challapampa ab, zwei Dörfern mit 1’000 beziehungsweise 700 Einwohnern, die oft dieselben Nachnamen haben und bis vor kurzem miteinander befreundet waren. Es geht um Geld und Eitelkeit; um die Folgen, die Tourismus in armen Gegenden haben kann. Und es geht um die Schattenseiten der erfolgreichen Politik, mit der die bolivianische Regierung die Indigenen gestärkt hat. 

Ruinen und zerstörte Hütten

Es begann um das Jahr 2000, als vermehrt Touristen auf die Insel kamen. Sie wanderten durch die Hügel, in denen Eukalyptusbäume, Mais, Bohnen und Kartoffeln wachsen, besuchten die Ruinen, die von den Inka geblieben sind. Und sie übernachteten meist in Challapampa, das strategisch günstig im Norden der Insel liegt, nahe bei den Inka-Stätten. In Challa, eine Bucht weiter südlich, beobachtete man mit wachsendem Argwohn, wie die Nachbarn immer neue Hostels und Restaurants bauten. Selber verfügte man über drei Hostels, sie waren selten ausgelastet.
Dann hatten die Dorfvorsteher von Challa eine folgenschwere Idee. Sie schlugen vor, Hütten zu bauen, in denen Touristen nächtigen konnten. So sollte auch Challa zu mehr Einnahmen aus dem Tourismus kommen. Der Standort der Unterkünfte war allzu forsch gewählt: knapp hundert Meter neben den Ruinen, die von Challapampa verwaltet werden. Die Bewohner von Challapampa verlangten von den Behörden, den illegalen Bau zu stoppen. Als dies nicht geschah, handelten sie selber. Sie zerstörten zwei Hütten, die kurz vor der Fertigstellung standen. Am Tag darauf, am 24. März 2017, versammelten sich die Bewohner von Challa auf dem Dorfplatz. Sie waren wütend. Sie beschlossen, eine Blockade zu errichten und den Nachbarn so die Lebensader abzuklemmen. Sie hissten eine rote Flagge am Strand, um die Blockade zu signalisieren. Sie begannen Schiffe abzufangen, die Besucher brachten. Und sie schickten Touristen, die nordwärts wanderten, zurück in den Süden, wo Boote nach wie vor unbehelligt landen.

Die Blockade war wirkungsvoll. Vierzehn Monate nach der Zerstörung der Hütten gleicht Challapampa, dessen rund hundert Häuser in eine Landenge zwischen zwei Buchten gebaut sind, einem Geisterdorf. An der bescheidenen Hafenpromenade reihen sich geschlossene Hostels an geschlossene Restaurants. Auf einem weggeworfenen Schild steht: "Titikharkha Tours – tägliche Ausfahrten". In der Bucht dümpeln dreissig Boote. Eines hat zerbrochene Scheiben, die Scherben liegen verstreut auf dem Holzboden. Dazwischen Löcher von Dynamitexplosionen.
Es sind Spuren des letzten Gewaltausbruchs. Anfang Januar durchbrachen die Bewohner von Challapampa die Blockade. Sie wollten ein Boot eskortieren, das zwei Dutzend Touristen bringen sollte. Doch am Südende der Insel holten sie die Boote aus Challa ein. In den Minuten, die folgten, flogen Steine zwischen den Booten der beiden Dörfer, Dynamit explodierte.

Blut auf dem Bootsdeck

Die Besitzerin des Dorfladens von Challapampa befand sich auf dem beschädigten Boot, zusammen mit ihrer Schwester und weiteren Verwandten. Sie spricht leise mit einer Freundin im Eingang. Seit die Touristen wegbleiben, kommt nicht viel Kundschaft. Sie holt ein Handy hervor, will ein Video zeigen, das an jenem Tag aufgenommen wurde. Es dauert eine knappe Minute. Die verwackelten Bilder zeigen Männer auf dem Dach eines Bootes, die sich bücken, Steine aufheben und sie gegen Boote von Challapampa schleudern. "Ihr seid nur mit Steinen mutig!", ruft eine Frauenstimme. Glas klirrt, auf dem Boden des Bootes ist Blut erkennbar. "Es reicht!", ruft ein Mann. Eine Frau: "Wir werden sterben!"
Die Verkäuferin weint, als sie das Video zeigt. Wie die meisten Bewohner von Challapampa ist sie nach einem Jahr des Konflikts verzweifelt, wegen der Gewalt, aber auch wegen der wirtschaftlichen Situation. Challapampa verfügt nur über wenig Landwirtschaftsland, die Gemeinde lebt vom Tourismus. Fast alle Familien haben Kredite aufgenommen, um Hostels zu bauen und Boote zu kaufen. Ein Boot kostet umgerechnet mehr als 10’000 Franken, ein Motor weitere 7’000. Die Bewohner von Challapampa schulden den Banken Zehntausende Franken. Nun klopfen diese an die Türen im Dorf, drohen mit Beschlagnahme.

In Challapampa fühlt man sich vom Staat im Stich gelassen. Es ist bereits dunkel, als sich ein Dutzend Männer im Gemeindesaal versammeln. Eine flackernde Glühbirne erhellt ernste Gesichter. Auf einem Tisch liegen zerknüllte Zigarettenpakete, auf dem Boden Staub und Cocablätter. Die Dorfvorsteher von Challapampa haben sich über dreissig Mal mit Behördenvertretern getroffen. Sie suchten die Hilfe der Tourismusministerin, der Gerichte, selbst der Unesco. Sie klagen, die Regierung behandle den Konflikt, als ob es ein belangloser Streit auf einer abgelegenen Insel wäre. "Wir fragen uns", sagt ein Mann mit Mütze, "sind wir eigentlich Bolivianer, oder sind wir es nicht?"
Tatsächlich könnte die Frage in die richtige Richtung zielen. Seit Bolivien 2009 eine neue Verfassung verabschiedet hat, ist das Land ein "plurinationaler" Staat. Die Verfassung anerkennt 36 indigene Nationen und ihre Rechtssysteme als gleichrangig mit der herkömmlichen Justiz. Indigene Gemeinschaften können Autonomie beantragen und in einem mehrjährigen Verfahren eigentliche separate Verfassungen ausarbeiten. Im Sommer 2017 erhielt Challa den Status als "comunidad indígena originaria campesina", ein erster Schritt auf dem Weg zur Autonomie. Nun verweigern die Dorfvorsteher von Challa jedes Gespräch mit den staatlichen Autoritäten. Sie sagen, der Zentralstaat solle sich nicht in die Belange einer indigenen Gemeinschaft einmischen. In Challapampa dagegen hat man das Gefühl, dass die Nachbarn aus Challa die Autonomierechte missbrauchten. "Sie denken, die neue Verfassung sei nur für sie gemacht", sagt einer der Männer im Gemeindesaal.

In Challa nutzt man das Autonomieargument nicht nur, um staatliche Einflussnahme abzuwehren, sondern auch offensiv. Die Gemeinde begründet nun auch den Anspruch auf Teilhabe an den Tourismuseinnahmen damit, eine vorkoloniale Gemeinschaft zu sein. Zu dieser gehöre nicht nur das heutige Gemeindegebiet, sondern auch der Norden der Insel. Das heisst: auch Challapampa. Tatsächlich war Challapampa ein Dorfteil von Challa, bis man sich 1985 einvernehmlich trennte. Nach 2000, als die Ruinen immer mehr Touristen angezogen, benachteiligte die Trennung Challa.
In Challapampa glaubt man, die neidischen Nachbarn benutzten die Indigenenrechte als Waffe, um vom Kapitalismus zu profitieren, mit dem man in Challapampa geschickter umzugehen wusste. "Sie wollen, dass wir von ihnen abhängig sind", sagt einer der Männer im Saal.

"Erst wenn der letzte Baum…"

In Challa heisst es, der Tourismus habe den Bewohnern von Challapampa die Köpfe verdreht. "Sie wollen nicht, dass wir auch nur einen Centavo verdienen", sagt Roger Choque, einer der Dorfvorsteher. Choque ist 35, doch er wirkt älter. Er hat sich in den letzten Monaten zum Rechtsexperten der Gemeinschaft entwickelt. Neben der bolivianischen Verfassung zitiert er mit Vorliebe Gandhi und den Dalai Lama. Seine Idole passen nicht recht zur Feindseligkeit, mit der er den Nachbarn begegnet.
Um beweisen zu können, dass Challapampa ein Dorfteil von Challa ist, haben die elf Dorfvorsteher das Nationalarchiv in Sucre aufgesucht und Dokumente kopiert, die den Standpunkt von Challa belegen sollen. Zwei Tage nach dem Treffen im Gemeindesaal von Challapampa wollen die Vorsteher die Dokumente der Dorfversammlung präsentieren. Um halb drei Uhr nachmittags sitzen sie auf Plasticstühlen, die sie auf eine Wiese beim Strand gestellt haben. Weiter unten im Sand liegen die verkohlten Skelette von zwei Booten von Challapampa, die nach Challa entführt und verbrannt wurden. Während sich die Dorfbewohner auf der Wiese versammeln, stecken die Vorsteher ihre Köpfe über einer Karte zusammen, die sie auf einem Tisch ausgebreitet haben. "Mit dieser Karte", sagt Roger Choque, "wollen wir beweisen, dass Challa und Challapampa zusammengehören." Auf dem Plan ist nur Challa verzeichnet, allerdings stammt er aus dem Jahr 1959, Challapampa löste sich erst 26 Jahre später von Challa.
Choque öffnet als Nächstes eine vergilbte Mappe und zieht die moderne Gründungsakte von Challa heraus. Sie stammt aus dem Jahr 1953. Er holt weitere Dokumente hervor, von 1843, 1838, 1729. Alle erwähnen das heutige Challa. 

Plötzlich macht sich Unruhe bemerkbar. Draussen in der Bucht ziehen zwei Boote aus Challapampa vorbei. Choque hebt den Kopf, sagt: "Offenbar wollen sie uns provozieren." Er vermutet, dass die Boote Touristen abholen. Er lässt sich nicht beirren, holt nun eine Kopie der Verfassung hervor. Er liest laut Artikel 2 vor, der die Selbstbestimmung der indigenen Völker garantiert. Er fährt fort mit den Artikeln 191 und 394; sie sollen belegen, dass die Rechte der Bewohner von Challa verletzt werden, wenn Challapampa nicht wieder Teil von Challa wird.
Zwei weitere Boote ziehen vorbei. Das Raunen in der Versammlung wird lauter. "Irgendwas planen diese Kerle", murmelt Choque. Er ist mittlerweile am Ende seines Plädoyers angelangt und fasst zusammen: "Gemäss Gesetz sollten Challa und Challapampa die Einkünfte aus dem Tourismus teilen." Er sagt, er wolle noch eine Botschaft an die Welt richten. "Erst wenn der letzte Baum gefällt ist", sagt er, und seine Stimme füllt sich mit Pathos, "wenn der letzte Fisch gefangen ist, wenn der letzte Fluss vergiftet ist, erst dann wird der Mensch verstehen, dass man Geld nicht essen kann."
Einige Männer haben seine Worte nicht gehört. Sie haben sich am Strand versammelt, beobachten dort die Manöver der Boote. "Lasst uns eingreifen", sagt einer. 

Konfliktträchtige AutonomieprozesseIndigene Autonomie ist ein zentraler Bestandteil der plurinationalen Verfassung, die Bolivien 2009 verabschiedet hat. In den letzten Jahren wurden die Autonomieprozesse von der zunehmend autoritären Regierung von Evo Morales aber nicht mehr entschieden gefördert. An manchen Orten hat die Autonomie zu Konflikten geführt, etwa weil Vertreter der Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo) fürchteten, gegenüber indigenen Autoritäten an Macht einzubüssen. Der Konflikt auf der Isla del Sol zeige, auf welche Hindernisse die Autonomieprozesse in der praktischen Umsetzung stiessen, sagt der Anthropologe Mark Goodale von der Universität Lausanne. Der Streit sei insofern besonders, als er sich um Einnahmen aus dem Tourismus drehe. Die Argumentation der Vertreter der Gemeinde Challa, die dem Nachbardorf die Unabhängigkeit absprechen, hält Goodale für nicht haltbar. Zwar seien der indigenen Autonomie nur vage Grenzen gesetzt, doch könne eine Gemeinde nicht einfach eine andere zwingen, sich dem Autonomieprozess anzuschliessen. 

Die Blockade war wirkungsvoll. Vierzehn Monate nach der Zerstörung der Hütten gleicht Challapampa, dessen rund hundert Häuser in eine Landenge zwischen zwei Buchten gebaut sind, einem Geisterdorf. An der bescheidenen Hafenpromenade reihen sich geschlossene Hostels an geschlossene Restaurants. Auf einem weggeworfenen Schild steht: "Titikharkha Tours – tägliche Ausfahrten". In der Bucht dümpeln dreissig Boote. Eines hat zerbrochene Scheiben, die Scherben liegen verstreut auf dem Holzboden. Dazwischen Löcher von Dynamitexplosionen.
Es sind Spuren des letzten Gewaltausbruchs. Anfang Januar durchbrachen die Bewohner von Challapampa die Blockade. Sie wollten ein Boot eskortieren, das zwei Dutzend Touristen bringen sollte. Doch am Südende der Insel holten sie die Boote aus Challa ein. In den Minuten, die folgten, flogen Steine zwischen den Booten der beiden Dörfer, Dynamit explodierte.

Blut auf dem Bootsdeck

Die Besitzerin des Dorfladens von Challapampa befand sich auf dem beschädigten Boot, zusammen mit ihrer Schwester und weiteren Verwandten. Sie spricht leise mit einer Freundin im Eingang. Seit die Touristen wegbleiben, kommt nicht viel Kundschaft. Sie holt ein Handy hervor, will ein Video zeigen, das an jenem Tag aufgenommen wurde. Es dauert eine knappe Minute. Die verwackelten Bilder zeigen Männer auf dem Dach eines Bootes, die sich bücken, Steine aufheben und sie gegen Boote von Challapampa schleudern. "Ihr seid nur mit Steinen mutig!", ruft eine Frauenstimme. Glas klirrt, auf dem Boden des Bootes ist Blut erkennbar. "Es reicht!", ruft ein Mann. Eine Frau: "Wir werden sterben!"
Die Verkäuferin weint, als sie das Video zeigt. Wie die meisten Bewohner von Challapampa ist sie nach einem Jahr des Konflikts verzweifelt, wegen der Gewalt, aber auch wegen der wirtschaftlichen Situation. Challapampa verfügt nur über wenig Landwirtschaftsland, die Gemeinde lebt vom Tourismus. Fast alle Familien haben Kredite aufgenommen, um Hostels zu bauen und Boote zu kaufen. Ein Boot kostet umgerechnet mehr als 10’000 Franken, ein Motor weitere 7’000. Die Bewohner von Challapampa schulden den Banken Zehntausende Franken. Nun klopfen diese an die Türen im Dorf, drohen mit Beschlagnahme.

In Challapampa fühlt man sich vom Staat im Stich gelassen. Es ist bereits dunkel, als sich ein Dutzend Männer im Gemeindesaal versammeln. Eine flackernde Glühbirne erhellt ernste Gesichter. Auf einem Tisch liegen zerknüllte Zigarettenpakete, auf dem Boden Staub und Cocablätter. Die Dorfvorsteher von Challapampa haben sich über dreissig Mal mit Behördenvertretern getroffen. Sie suchten die Hilfe der Tourismusministerin, der Gerichte, selbst der Unesco. Sie klagen, die Regierung behandle den Konflikt, als ob es ein belangloser Streit auf einer abgelegenen Insel wäre. "Wir fragen uns", sagt ein Mann mit Mütze, "sind wir eigentlich Bolivianer, oder sind wir es nicht?"
Tatsächlich könnte die Frage in die richtige Richtung zielen. Seit Bolivien 2009 eine neue Verfassung verabschiedet hat, ist das Land ein "plurinationaler" Staat. Die Verfassung anerkennt 36 indigene Nationen und ihre Rechtssysteme als gleichrangig mit der herkömmlichen Justiz. Indigene Gemeinschaften können Autonomie beantragen und in einem mehrjährigen Verfahren eigentliche separate Verfassungen ausarbeiten. Im Sommer 2017 erhielt Challa den Status als "comunidad indígena originaria campesina", ein erster Schritt auf dem Weg zur Autonomie. Nun verweigern die Dorfvorsteher von Challa jedes Gespräch mit den staatlichen Autoritäten. Sie sagen, der Zentralstaat solle sich nicht in die Belange einer indigenen Gemeinschaft einmischen. In Challapampa dagegen hat man das Gefühl, dass die Nachbarn aus Challa die Autonomierechte missbrauchten. "Sie denken, die neue Verfassung sei nur für sie gemacht", sagt einer der Männer im Gemeindesaal.

In Challa nutzt man das Autonomieargument nicht nur, um staatliche Einflussnahme abzuwehren, sondern auch offensiv. Die Gemeinde begründet nun auch den Anspruch auf Teilhabe an den Tourismuseinnahmen damit, eine vorkoloniale Gemeinschaft zu sein. Zu dieser gehöre nicht nur das heutige Gemeindegebiet, sondern auch der Norden der Insel. Das heisst: auch Challapampa. Tatsächlich war Challapampa ein Dorfteil von Challa, bis man sich 1985 einvernehmlich trennte. Nach 2000, als die Ruinen immer mehr Touristen angezogen, benachteiligte die Trennung Challa.
In Challapampa glaubt man, die neidischen Nachbarn benutzten die Indigenenrechte als Waffe, um vom Kapitalismus zu profitieren, mit dem man in Challapampa geschickter umzugehen wusste. "Sie wollen, dass wir von ihnen abhängig sind", sagt einer der Männer im Saal.

"Erst wenn der letzte Baum…"

In Challa heisst es, der Tourismus habe den Bewohnern von Challapampa die Köpfe verdreht. "Sie wollen nicht, dass wir auch nur einen Centavo verdienen", sagt Roger Choque, einer der Dorfvorsteher. Choque ist 35, doch er wirkt älter. Er hat sich in den letzten Monaten zum Rechtsexperten der Gemeinschaft entwickelt. Neben der bolivianischen Verfassung zitiert er mit Vorliebe Gandhi und den Dalai Lama. Seine Idole passen nicht recht zur Feindseligkeit, mit der er den Nachbarn begegnet.
Um beweisen zu können, dass Challapampa ein Dorfteil von Challa ist, haben die elf Dorfvorsteher das Nationalarchiv in Sucre aufgesucht und Dokumente kopiert, die den Standpunkt von Challa belegen sollen. Zwei Tage nach dem Treffen im Gemeindesaal von Challapampa wollen die Vorsteher die Dokumente der Dorfversammlung präsentieren. Um halb drei Uhr nachmittags sitzen sie auf Plasticstühlen, die sie auf eine Wiese beim Strand gestellt haben. Weiter unten im Sand liegen die verkohlten Skelette von zwei Booten von Challapampa, die nach Challa entführt und verbrannt wurden. Während sich die Dorfbewohner auf der Wiese versammeln, stecken die Vorsteher ihre Köpfe über einer Karte zusammen, die sie auf einem Tisch ausgebreitet haben. "Mit dieser Karte", sagt Roger Choque, "wollen wir beweisen, dass Challa und Challapampa zusammengehören." Auf dem Plan ist nur Challa verzeichnet, allerdings stammt er aus dem Jahr 1959, Challapampa löste sich erst 26 Jahre später von Challa.
Choque öffnet als Nächstes eine vergilbte Mappe und zieht die moderne Gründungsakte von Challa heraus. Sie stammt aus dem Jahr 1953. Er holt weitere Dokumente hervor, von 1843, 1838, 1729. Alle erwähnen das heutige Challa. 

Plötzlich macht sich Unruhe bemerkbar. Draussen in der Bucht ziehen zwei Boote aus Challapampa vorbei. Choque hebt den Kopf, sagt: "Offenbar wollen sie uns provozieren." Er vermutet, dass die Boote Touristen abholen. Er lässt sich nicht beirren, holt nun eine Kopie der Verfassung hervor. Er liest laut Artikel 2 vor, der die Selbstbestimmung der indigenen Völker garantiert. Er fährt fort mit den Artikeln 191 und 394; sie sollen belegen, dass die Rechte der Bewohner von Challa verletzt werden, wenn Challapampa nicht wieder Teil von Challa wird.
Zwei weitere Boote ziehen vorbei. Das Raunen in der Versammlung wird lauter. "Irgendwas planen diese Kerle", murmelt Choque. Er ist mittlerweile am Ende seines Plädoyers angelangt und fasst zusammen: "Gemäss Gesetz sollten Challa und Challapampa die Einkünfte aus dem Tourismus teilen." Er sagt, er wolle noch eine Botschaft an die Welt richten. "Erst wenn der letzte Baum gefällt ist", sagt er, und seine Stimme füllt sich mit Pathos, "wenn der letzte Fisch gefangen ist, wenn der letzte Fluss vergiftet ist, erst dann wird der Mensch verstehen, dass man Geld nicht essen kann."
Einige Männer haben seine Worte nicht gehört. Sie haben sich am Strand versammelt, beobachten dort die Manöver der Boote. "Lasst uns eingreifen", sagt einer. 

Konfliktträchtige AutonomieprozesseIndigene Autonomie ist ein zentraler Bestandteil der plurinationalen Verfassung, die Bolivien 2009 verabschiedet hat. In den letzten Jahren wurden die Autonomieprozesse von der zunehmend autoritären Regierung von Evo Morales aber nicht mehr entschieden gefördert. An manchen Orten hat die Autonomie zu Konflikten geführt, etwa weil Vertreter der Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo) fürchteten, gegenüber indigenen Autoritäten an Macht einzubüssen. Der Konflikt auf der Isla del Sol zeige, auf welche Hindernisse die Autonomieprozesse in der praktischen Umsetzung stiessen, sagt der Anthropologe Mark Goodale von der Universität Lausanne. Der Streit sei insofern besonders, als er sich um Einnahmen aus dem Tourismus drehe. Die Argumentation der Vertreter der Gemeinde Challa, die dem Nachbardorf die Unabhängigkeit absprechen, hält Goodale für nicht haltbar. Zwar seien der indigenen Autonomie nur vage Grenzen gesetzt, doch könne eine Gemeinde nicht einfach eine andere zwingen, sich dem Autonomieprozess anzuschliessen.