Es gebe eine Sache, die er nicht begreife, sagt Fahrettin Saglam. Dass er nur deshalb nicht frei reisen könne, weil er anderswo geboren sei als andere. "Wenn du als EU-Bürger oder Schweizer nach Mekka laufen willst", sagt er, "hindert dich niemand." Seit dem 6. Mai 2014 hat der 38-Jährige zwölf Nächte im Gefängnis verbracht.
Fahrettin Saglams Füsse stecken in Sandalen, er trägt 25 Kilo Gepäck auf dem Rücken. Den Rucksack, das Zelt, die Saz, das Saiteninstrument seiner Heimat. "Regarde", sagt er in akzentfreiem Französisch, das hat er in der Schweiz gelernt. Er zeigt auf die Blasen an seinen Fusssohlen. "Die machen mich nicht müde, der schwere Rucksack auch nicht." Es sei das System, das ihn müde mache.
25 Kilometer ist er in der Sonne gelaufen, von Burgdorf nach Langenthal. Am Tag danach sitzt Fahrettin Saglam im Bahnhofrestaurant, trinkt Kaffee und raucht. Am Nachmittag will er weiter, nach Olten mindestens, dann Richtung Basel und Deutschland. Übernachtet habe er im Park, im Zelt, keine Polizei die letzte Nacht. So glücklich wie jetzt gerade sei er lange nicht gewesen, sagt er, vielleicht damals, als Kind, in Çaybasi Köyü, seinem Dorf in der Nordtürkei, als er jeden Tag Früchte von den Bäumen pflückte. Er habe immer gewusst, an welchem Baum die besten Kirschen wüchsen. In Fahrettin Saglams sehr dunklen Augen spiegelt sich etwas, wenn er das sagt. Traurigkeit.
Viele kennen den hageren Kurden in Biel. Hier hat er die letzten fünf Jahre illegal gelebt und gearbeitet. Es gibt Leute, die rufen ihn liebevoll Moruk, türkisch für "Alter". Und es gibt Leute, die finden, Moruk sei der beste Kellner der Stadt. Er hat, und das bezeugen alle, die ihn bei der Arbeit erlebt haben, die Alkoholiker im Fumoir stets gleich behandelt wie die feinen Herren, die Champagner für 400 Franken die Flasche orderten. Das habe mit Respekt zu tun, sagt Fahrettin Saglam. Respekt, es ist das zentrale Wort des Universums für ihn, in jeder Religion, in jedem Gesetz stehe Respekt über allem, sagt er, und für den Respekt laufe er jetzt nach Mekka, an den wichtigsten Wallfahrtsort des Islam. Auf sein T-Shirt hat er "Stop War" geschrieben, mit wasserfestem Filzstift, auf die Dreiviertelhosen und die Mütze das Gleiche. Er macht oft das Peace-Zeichen mit den Fingern. 6019 Kilometer werde er zu Fuss zurücklegen, über Deutschland, Österreich, Slowenien, Serbien, Bulgarien, dann über die Türkei nach Syrien marschieren. Und von dort nach Mekka, sagt er, davon sei er hundertprozentig überzeugt. Es klingt absurd, wenn er das so beschwört, und es klingt romantisch: Ein Mann ohne Papiere und ohne Geld überwindet alle Grenzen.
Fahrettin Saglam gestikuliert, wenn er von den Bildern in seinem Kopf erzählt. Von Menschen in Afrika, die anderen Menschen den Kopf abschneiden und damit Fussball spielen, weil sie einer anderen Religion angehören. Von Giftgasattacken in Syrien. Von Menschen, denen die Muttersprache verboten wird wie ihm als jungem Kurden in der Türkei. Dagegen protestiere er, sagt Fahrettin Saglam. Gegen Krieg, gegen Konflikte und ja, gegen fehlenden Respekt. "Ich laufe nach Mekka, um allen Muslimen zu sagen: Kommt her mit dem Koran, sprecht über eure Probleme, lasst die Waffen zu Hause." Die sehr dunklen Augen schauen sehr ernst. "Und dann marschiere ich weiter nach Jerusalem und sage das Gleiche zu den Christen und den Juden."
Als Angehöriger der kurdischen Minderheit sei er in der Heimat unterdrückt worden, sagt Fahrettin Saglam. Seine systemkritischen Gedichte habe er in der Türkei nicht veröffentlichen können, deshalb sei er in die Schweiz geflüchtet, in ein Land, in dem jeder sagen dürfe, was er wolle. Es war nach der Jahrtausendwende, Fahrettin Saglam kam ohne Pass, ohne Papiere, ohne Geld. Er hat bei Freunden gelebt, für Freunde gearbeitet, immer schwarz, in La Chaux-de-Fonds, später in Biel. Er war nie gemeldet. Er hat nie ein Asylgesuch gestellt, nie Steuern bezahlt, nie versucht, eine Schweizerin zu heiraten, nie staatliche Leistungen beansprucht. Wenn er kontrolliert worden ist, hat er den Ausweis eines Freundes gezeigt. Fahrettin Saglam hat vor dem Staat wie ein Phantom gelebt, jahrelang einfach nicht existiert. Das habe sehr gut geklappt, sagt er.
Irgendwann Anfang dieses Jahres habe er sich dann eine Frage gestellt: "Was von Bedeutung habe ich für die Welt getan?" Eine Antwort fand er nicht. Also gab er die Wohnung auf, die er unter dem Namen eines Freundes gemietet hatte, und organisierte einen Rucksack. "Ein Marsch für den Frieden bis nach Mekka", sagt er, "ist etwas von Bedeutung." Bis zu seinem 40. Geburtstag will er in Saudiarabien angekommen sein, knapp zwei Jahre gibt er sich für die Reise, die seinem Leben Sinn gibt. "The Man who walks for the peace" heisst seine Facebook-Seite, er will so viel Aufmerksamkeit wie möglich. Wenn es irgendwo kostenlosen Internetzugang gibt, aktualisiert er das Profil. Fahrettin Saglam hat 69 Fans.
Seit dem 6. Mai 2014 ist Fahrettin Saglam unterwegs. Er marschiere nur den Hauptstrassen entlang, sagt er, damit die Leute ihn stärker beachteten. Er spielt Saz, die Menschen legen ihm manchmal Geld in den Hut, für Essen, für die Medikamente gegen das Magenbrennen, es quält ihn oft. Er schläft in seinem Zelt oder im Bahnhof. Wenn die Polizei ihn kontrolliert, wird er in der Regel verhaftet: Er macht Strassenmusik ohne Bewilligung, er kann sich nicht ausweisen. Den Polizisten erklärt er jedes Mal, er wolle nur marschieren, musizieren, schlafen. Er stehle nicht, er belästige niemanden, er verlange nichts. Er selber sei aber nach den Gesetzen dieses Landes illegal, und das wisse er. Es gebe Beamte, die ihn daraufhin in Ruhe liessen, sagt Fahrettin Saglam.
Bis Bregenz in Österreich hatte es Fahrettin Saglam bis Ende Mai von Biel aus geschafft, 230 Kilometer, dann wurde er zurückgeschafft, über die Grenze, später nach Bern (siehe Karte). Dort hat die Fremdenpolizei verfügt, dass er "heimatliche Ausweispapiere" zu besorgen und sich jeden Freitag um 10 Uhr am Informationsschalter zu melden habe. Das tut er nicht. Fahrettin Saglam marschiert weiter, Langenthal liegt hinter ihm, vorgestern hat er ein Foto aus Lörrach auf Facebook gestellt. Drei Monate dauere es mindestens, sagt er, bis er den türkischen Pass bekomme. So viel Zeit bleibe ihm hier nicht. Es gehe ja auch nicht um eine Nationalität bei seiner Reise, auch nicht um eine Religion. "Es geht um einen Marsch als Mensch." Dass das naiv klinge, wisse er. Dass er wahrscheinlich noch hundertmal verhaftet werde und von vorne beginnen müsse, auch. Es sei ihm egal.
Moruk sagt, bisher sei alles viel besser gelaufen, als er es beim Start erwartet habe.