Hören wir Wildnis, löst das bei uns Menschen verschiedene Assoziationen aus. Viele Naturbegeisterte denken sofort an riesige, weitgehend unberührte Naturlandschaften wie etwa in Lappland, Grönland, Kanada. Dort findet sich tatsächlich Wildnis im wissenschaftlichen Sinn: Die International Union for Conservation of Nature (IUCN) definiert Wildnis als "ausgedehnte ursprüngliche oder nur leicht veränderte Gebiete, die ihren natürlichen Charakter bewahrt haben, in denen keine ständigen oder bedeutenden Siedlungen existieren." In der Schweiz erfüllt nur der Nationalpark diese Anforderung.

Viele Menschen denken beim Begriff Wildnis aber auch einfach an kleinere Flächen, die der Mensch nicht nutzt, pflegt oder gestaltet. Solche Flächen mit Wildnischarakter, in denen die Natur frei wirken kann, finden sich oft in Siedlungsnähe. Auf sie richten wir den Fokus dieser Ausgabe; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Pro Natura stellen uns auf diesen Seiten ihre persönlichen "Wildnisinseln" vor und deren Wert für Mensch und Natur.  

Die Natur ist der Chef

Mit der neuen Kampagne "Wildnis – mehr Freiraum für die Natur!" will Pro Natura solche Flächen fördern, in denen der Mensch eine freie, dynamische Entwicklung der Natur zulässt. Für diese Flächen hat es nicht nur in den Alpen, sondern auch in den Voralpen, im Jura und im Mittelland Platz.

Ursprüngliche Naturlandschaften sind wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Freie Naturentwicklung hat eine eigene, dynamische Ordnung im Ökosystem, auch wenn wir Menschen diese mitunter als Chaos wahrnehmen. In einem Naturwald etwa können Stürme, Lawinen, Murgänge und Hochwässer immer wieder vermeintliche Schäden anrichten. Zwischenzeitlich können lokal sogar einzelne Arten verschwinden. Die Versuchung des Menschen ist dann gross, korrigierend einzugreifen.  

Natürliche Kreisläufe entstehen

Doch durch diese Veränderungen gibt es wieder neuen Raum für viele Pflanzen- und Tierarten, die sich neu ansiedeln können. Wenn wir Geduld haben, der Natur ihren freien Lauf zu lassen, kann in ehemals forstwirtschaftlich genutzten Wäldern wieder ein natürlicher Waldkreislauf entstehen mit mächtigen alten Bäumen, viel Totholz und einer neuen Generation junger Bäume. Dazu braucht es Geduld. Und davon profitiert am Ende die Biodiversität. 

Wildnis ist auch wichtig als Freilandlabor für die Wissenschaft, insbesondere in Zeiten des Klimawandels. Wie sich Wildnisgebiete entwickeln ist hoch interessant, denn freie Naturentwicklung ist nicht eindeutig vorhersagbar. Mehr Wissen über dynamische Prozesse in der Natur hilft uns, in einer sich schnell wandelnden Umwelt besser zurecht zu kommen. 

Wildnisschutz hat Tradition

Mit ihrer Kampagne "Wildnis – mehr Freiraum für die Natur!" stellt Pro Natura nicht den pflegenden, erhaltenden Naturschutz infrage, sondern streben ein "sowohl als auch" an, kein "entweder oder". Die verschiedenen Naturschutzansätze sollen dort zum Einsatz kommen, wo sie am besten geeignet sind und sie sollen sich gegenseitig ergänzen. Auch in der Mehrzahl der knapp 700 Naturschutzgebiete von Pro Natura werden Pflegeeingriffe vorgenommen, oft auch weil die natürliche Dynamik von grösseren Wildnisgebieten nicht mehr vorhanden ist.

Insgesamt steht der Wildnisschutz seit der Gründung anno 1909 im Fokus von Pro Natura. Der damalige Schweizerische Bund für Naturschutz wurde geschaffen, um die Gründung des Schweizerischen Nationalparks zu ermöglichen, was im Jahr 1914 dann auch tatsächlich der Fall war.  

Die wilden Alpen verteidigen

Es sind nach wie vor die Alpen, die das grösste Wildnispotenzial der Schweiz und sogar ganz Mitteleuropas aufweisen. Doch in den letzten 150 Jahren haben Bauprojekte des Tourismus, der Energiewirtschaft und des Verkehrs viele wertvolle Naturlandschaften zerstört. Und sie bedrohen weitere Wildnisgebiete. Pro Natura setzt sich deshalb vehement dafür ein, dass keine bisher unberührten Flächen mehr geopfert werden.

Das Engagement von Pro Natura für Wildnis zeigt sich auch im Einsatz für naturnahe Gewässer: Wo der Mensch Flüsse staut oder in ein steinernes Korsett zwängt, gehen vielfältige Naturlandschaften verloren. Flussläufe mit breitem Bett und zeitweise überfluteten Schwemmebenen sind die "Regenwälder Mitteleuropas". Wo wir sie wieder ermöglichen, erblüht üppige Wildnis.

Den Mensch nicht ausschliessen

Grosses Wildnispotenzial besteht auch in den letzten Mooren der Schweiz. Diese sind über rund 10’000 Jahre hinweg herangewachsen. Doch innerhalb weniger Jahrhunderte hat der Mensch 90 Prozent dieser herb-schönen Wildnis zerstört, in der ein Viertel der bedrohten Pflanzenarten der Schweiz lebt. Moorrevitalisierungen sind dringend und retten hochbedrohte Arten.

Wichtig ist: Wildnis schliesst menschliche Eingriffe aus, sie schliesst aber nicht den Menschen aus. Freizeit und Sport in der wilden Natur sind wichtig und sollen den Menschen weiterhin offenstehen. Damit Tiere und Pflanzen aber nicht unter Besucherströmen leiden, müssen wir gewisse Spielregeln respektieren. Pro Natura engagiert sich deshalb mit Sensibilisierungs- und Besucherlenkungsprojekten für naturverträgliche Freizeitaktivitäten. 

Wildnis beginnt im eigenen Garten

Und damit zurück zu den Schauplätzen der wilden Natur: Wie gesagt liegen diese nicht nur in den Alpen, sondern zum Teil in unmittelbarer Siedlungsnähe. Sie können aber auch inmitten unserer Siedlungen liegen. Auch Gärten, Parks, Friedhöfe, Böschungen und Brachen bieten Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Viele kleine, vernetzte Flächen können zusammen wilden Freiraum für die Natur bieten.

Manchmal ist Wildnisförderung ganz einfach: Wenn wir im eigenen Garten eine "wilde Ecke" zulassen, können wir dort einen Hauch von Wildnis erleben. Pflanzen, Pilze und Tiere werden von der "Mikrowildnis" dankbar Besitz ergreifen und uns staunen lassen. Auch darauf wird unsere mehrjährige Kampagne Wert legen.

Jan Gürke leitet die Pro Natura Kampagne "Wildnis – mehr Freiraum für die Natur!"