«Nachhaltige Entwicklung» zwischen Rio (1992) und Rio (2012): Zwei verlorene Jahrzehnte
1992, am Erdgipfel von Rio, verpflichtete sich die Staatengemeinschaft auf den Weg der nachhaltigen Entwicklung. Es war die Geburtsstunde der "Weltinnenpolitik" und das Versprechen eines neuen Entwicklungsparadigmas: "Der einzige Weg, der uns eine sichere und blühende Zukunft bescheren kann, besteht darin, Umwelt- und Entwicklungsfragen gleichermassen und miteinander anzugehen", heisst es im dort verabschiedeten Aktionsprogramm "Agenda 21". "Wir müssen menschliche Grundbedürfnisse befriedigen, den Lebensstandard aller Menschen verbessern und die Ökosysteme wirkungsvoll schützen und verwalten." Die Industriestaaten übernahmen – dem Verursacherprinzip entsprechend – die Hauptverantwortung.
Auf dem Weg der Selbstzerstörung
Die Entwicklung der letzten 20 Jahre spottet den Rio-Beschlüssen Hohn. Zentrale wirtschaftliche, soziale und ökologische Indikatoren stehen auf Alarm. Das Ökosystem Erde gerät immer mehr aus den Fugen. Der ökologische Fussabdruck der Industriestaaten übersteigt die Trag- und Regenerationsfähigkeit der Erde. Die Wälder werden unvermindert abgeholzt, die Artenvielfalt schwindet, sauberes Wasser wird immer knapper, die Meere werden leergefischt. Die Zahl der hungernden Menschen steigt, doch auf riesigen Flächen wird Treibstoff statt Nahrung angebaut. Der Wettlauf um nicht erneuerbare Ressourcen wird immer rücksichtsloser. Die Klimaveränderung verdeutlicht unser nicht nachhaltiges Produktions- und Konsumverhalten exemplarisch.
20 Jahre "Rio" heisst 20 Jahre kollektives Versagen der Politik. Sie war nicht willens, den Paradigmenwechsel einzuleiten. Zwei Jahre nach dem Erdgipfel wurde die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet und das Primat des Freihandels etabliert. "während die Staatschefs in Rio bekräftigten, das nördliche Wirtschafts- und Entwicklungsmodell sei nicht globalisierbar, stülpten sie es via WTO der ganzen Welt über. Die Öffnung der Märkte wurde mit harten Sanktionsmöglichkeiten abgesichert, während die Umwelt- und Sozialregeln von Rio politisch-moralische Verpflichtung blieben. Bei den drei Rio-Konventionen, die zwingendes Völkerrecht sind, wurde und wird die Umwetzung wo immer möglich unterlaufen – siehe Kyoto-Protokoll.
Um die Umsetzung der Agenda 21 zu begleiten, wurde die Uno-Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD) geschaffen. Sie war von Beginn an ein schwaches Gremium ohne verbindliche Beschlusskompetenz. Ihr Einfluss und ihre Ambitionen schwanden von Jahr zu Jahr. Wenn es die Staatengemeinschaft ernst meint mit dem gemeinsamen Weg "in eine sichere und blühende Zukunft", muss sie bei "Rio+20" die notwendigen Uno-Strukturen schaffen und stärken.
"Grüne Wirtschaft" als Ausweg?
"Grüne Wirtschaft" soll nach dem Willen der Uno-Generalversammlung eines der Hauptthemen von "Rio 20" sein. Uno-Generalsekretär Ban-Ki Moon schrieb Anfang Jahr in einem Uno-Bericht dazu, ärmere Länder sähen ihre Entwicklungschancen gefährdet. Sie befürchteten, die Reichen wollten ihre Märkte mit höheren Umweltstandards abschotten.
Das Uno-Umweltprogramm UNEP errechnete kürzlich, mit zwei Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts lasse sich der Übergang in eine grüne Weltwirtschaft einleiten. Mit 1300 Milliarden US-Dollar pro Jahr könne eine ökologisch orientierte Marktwirtschaft erreicht und die Armut bekämpft werden. Den Zwang zum Wachstum stellt die UNEP nicht in Frage: "Es ist eindeutig, dass die Ökonomien sich weiterentwickeln und wachsen müssen. Diese Entwicklung darf jedoch nicht auf Kosten der Lebenserhaltungssysteme auf dem Land, in den Meeren oder in der Atmosphäre erfolgen, denn diese erhalten unsere Wirtschaftssystem und damit die Lebensgrundlage von uns allen", so UNEP-Direktor Achim Steiner.
Die Wirtschaft hat sich als "Business Action for Sustainable Developent 2012" im Hinblick auf "Rio+20" koordiniert und in die Vorarbeiten eingeklinkt. Von den NGOs aus Nord und Süd ist bisher nichts Vergleichbares bekannt. Wenn die Zivilgesellschaft die Inhalte von "Rio+20" mitprägen will, muss sie mit vereinten Kräften auftreten, auch in der Schweiz. Ohne gemeinsame Vorstellung von dem, was "Grüne Wirtschaft" für sie heisst, wird sie in Rio keine Stimme haben.
Die Illusion vom "Grünen Wachstum"
Die OECD spricht nicht von "Grüner Wirtschaft", sondern von "Grünem Wachstum". Sie wird demnächst eine Strategie dazu vorlegen. Sie will das Wirtschaftswachstum stärken und gleichzeitig die ökologischen Krisen bekämpfen. Die EU hat eine "Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum 2020" verabschiedet. Beide Beispiele zeigen, dass die Industriestaaten die Krisen des 21. Jahrhunderts mit jenem Mittel bekämpfen wollen, das die Krisen verursacht haben. mit noch mehr Wachstum.
Es gibt eine einfache Wahrheit die auch das Adjektiv "grün" nicht umstösst: In einer begrenzten Welt ist unbegrenztes Wachstum nicht möglich. Unsere Erde ist ein begrenzter Raum. Der Boden, die nicht erneuerbaren Ressourcen wachsen nicht nach. Die Biosphäre wächst nicht. Sie kann nicht endlos Schadstoffe aufnehmen. Nur mit Effizienz und grüner Technologie lassen sich Klimaveränderung und Ressourcenknappheit nicht lösen. Der naive Glaube an Effizienz ist ein wesentliches Hindernis auf der Suche nach menschen- und umweltgerechten Entwicklungen. Um unter der 2-Grad-Erwärmungsgrenze zu bleiben, so hat Fred Luks, Nachhaltigkeitsmanager der UniCredit Bank Austria, errechnet, bräuchte es bei eine mWirtschafts2wachstum von durchschnittlich 3 Prozent bis 2015 mindestens einen Effizienzfaktor 43!
Suffizienz- die Ökonomie des "Genug"
Einen Begriff fürchten die Politik und viele Umwelt- und Entwicklungsorganisationen wie der Teufel das Weihwasser: Suffizienz. Sie haben Angst, als Verzichtsmuffel und Verhinderter dazustehen. Zweifellos ist es einfacher, Wachstumsgewinne etwas gerechter zu verteilen, als das Vorhandene. Suffizienz bedeutet eine Ökonomie des "Genug". "Von nichts zu viel" steht am Eingang des Apollo-Tempels in Delphi, die wohl erste bekannte Definition von Suffizienz.
Um den Natur- und Ressourcenverschleiss zu stoppen und armen Ländern Raum für Entwicklung zu geben, muss die industrialisierte Welt ihre Abhängigkeit von (fossilem) Wachstum in Frage stellen. Eine nachhaltige, die Lebensgrundlagen sichernde Wirtschaft darf nicht nur nicht wachsen, sondern muss in einzelnen Segmenten schrumpfen.
Es gibt kein Szenario für ein kontinuierliches und gleichzeitig nachhaltiges Wachstum in einer Welt, die 2015 rund 9 Milliarden Menschen beherbergen wird. Stattdessen braucht es eine gerechte Verteilung des Vorhandenen, um allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Bedingungen und Möglichkeiten einer Post-Wachstumsökonomie sind jetzt auszuloten. Das ist die politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts, die nächstes Jahr in Rio angepackt werden muss.
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Das Problem sind wir
Einen bedenkenswerten Vorschlag zuhanden von "Rio+20" machte Prof. Mohan Munasinghe (Sri Lanka), Vizepräsident des Weltklimarates (IPCC). "Wir sollten uns auf die 1,4 Milliarden Menschen konzentrieren, die die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Sie verbrauchen 80 Prozent der globalen Produktion, das ist 60 Mal mehr als die ärmsten 20 Prozent der Menschen. Da es in diesen Ländern um 80 Prozent der globalen CO2-Emissionen und Ressourcenverbrauch geht, würden bereits kleine Änderungen einen grossen Unterschied bedeuten."
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Weitere Informationen: www.earthsummit2012.org
Rosmarie Bär war bei Alliance Sud von 1996 bis 2010 für das Dossier Nachhaltige Entwicklung verantwortlich. Ende 2010 ging sie in Pension.
Dieser Beitrag erschien in Global, dem Magazin von Alliance Sud, vom Frühling 2011. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Eine ungekürzte Version dieses Artikels finden Sie unter www.alliancesud.ch/de/ep/klima