fairunterwegs: Lieber Holger, du betrachtest Zertifizierungen und Labels als Fluch und Segen zugleich. Warum? 

Holger Sigmund: Einerseits bieten sie einen praktischen und konkreten Rahmen zur Orientierung im komplexen Themenfeld der Nachhaltigkeit, andererseits bergen sie ein großes Potenzial für Greenwashing. Zertifizierungsprogramme können eine starke Wirkung nach innen entfalten und notwendige Veränderungen in Unternehmen, Organisationen und Destinationen vorantreiben.   

Gleichzeitig werden sie von einigen Akteuren als reines „Abhaken von Kriterien“ gesehen, um dann grüne Labels für ihr Marketing zu nutzen. Es kommt eben immer darauf an, warum eine Zertifizierung gemacht wird, ob vorher entsprechendes Wissen aufgebaut wurde, ob eine Einstellung dazu vorhanden ist oder entwickelt wird und vor allem, wie ernst Nachhaltigkeit in den Unternehmen, Organisationen oder Verbänden genommen wird und wo diese das Thema intern verorten. Hier trennt sich, wie man so schön sagt, die Spreu vom Weizen. Zertifizierungen und Labels sollen Reisenden und Gästen Orientierung geben, gleichzeitig gibt es einen kaum überschaubaren Label-Dschungel und Zertifikate schützen nicht vor Greenwashing.

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fairunterwegs: Welche Erfahrungen hast du mit "Greenwashing" im Zusammenhang mit "grünen Labels" gemacht? 

HS: Die Verwirrung des Gastes im „grünen“ Label-Dschungel kommt nicht von ungefähr. Labels, also „Kennzeichnungen“, werden zu Marketingzwecken eingesetzt. Daraus entstehen Geschäftsmodelle und es entwickeln sich mehr oder weniger anerkannte und vertrauenswürdige Anbieter und Initiativen. Teilweise stecken tatsächlich anerkannte Zertifizierungsprogramme dahinter, teilweise nicht. Das allein ist aber für den Reisenden schwer zu durchschauen, ohne sich im Detail damit zu beschäftigen. Das Problem ist die aus meiner Sicht übertriebene und unreflektierte Verwendung von „Nachhaltigkeit“ in der Kommunikation. Meiner Meinung nach funktioniert dieser Wettlauf mit der Nachhaltigkeit nicht. Seriöse Initiativen und Zertifikate können dadurch sogar an Wert und Glaubwürdigkeit verlieren.  

Meiner Meinung nach wird sich das selbst regulieren, vor allem im Tourismus. Sobald ein Gast am Zielort ankommt, sei es ein Hotel oder eine Region, wird er automatisch spüren, ob das, was die Werbung oder ein Label suggeriert, vor Ort umgesetzt wird. 

fairunterwegs: Du meinst, weil es ein Geschäft ist, wird auch die Qualität von Zertifizierungen leiden?  

HS: Ja, es gibt Verbindungen. Ich bin ja selbst mitten im Geschäft, mit meinen Trainings für das GSTC und mit den Green Destinations-Zertifizierungen für Betriebe und Destinationen, die ich begleiten darf. Da stehe ich selbst mitten im Wettbewerb. An den Zertifizierungen sind viele Berater, Unternehmen, Agenturen, Lizenzgeber und Auditoren beteiligt. Eines muss man sich bewusst machen: Unternehmen zertifizieren Unternehmen gegen Geld, unabhängig davon, ob eine Zertifizierung gut gemeint ist oder nicht. Für mich und meine Arbeit gilt jedoch maximale Transparenz und die Bereitschaft zur Partnerschaft. Beides ist wichtig, um einen gut gemeinten Einsatz von Zertifizierungssystemen umzusetzen. 

fairunterwegs: Nicht nur im Tourismus ist derzeit viel Bewegung in Nachhaltigkeitsthemen – das hast du eingangs schon erwähnt. Gilt das auch für Zertifizierungen und wie wird Nachhaltigkeit im Tourismus dadurch positiv gefördert? 

HS: In den letzten zwei Jahren hat sich viel Positives getan. Nachhaltigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In der Tourismusbranche findet ein Umdenken statt. Die Komplexität der Nachhaltigkeit wird verstanden. Sehr oft stehen Zertifizierungen als Einstieg in das Thema Nachhaltigkeit im Vordergrund und im weiteren Austausch wird dann erkannt, dass es um viel mehr geht. In den GSTC-Trainings merken wir, wie hilfreich der Kriterienrahmen ist, um Nachhaltigkeit umfassend zu diskutieren, fassbar und damit messbar zu machen. Organisationen und Unternehmen, die sich mit einer Zertifizierung auseinandersetzen, erkennen genau in diesem Moment, was Nachhaltigkeit alles beinhaltet, was sie bereits tun und wo sie sich noch verbessern können.   

Mir ist wichtig zu betonen, dass es nicht darum geht, ob ein Unternehmen grundsätzlich nachhaltig ist oder nicht. Es geht vielmehr darum, zu erkennen, worauf man wesentlichen Einfluss nehmen kann, die Zukunft für alle gut mitzugestalten.  Es macht also Sinn, sich – auch als Privatperson – damit zu beschäftigen, wo man den größten Einfluss auf eine Verbesserung z.B. des CO2-Ausstoßes, auf eine gerechte Gesellschaft oder auf eine gerechte Verteilung von Wohlstand hat.  

"Nachhaltigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In der Tourismusbranche findet ein Umdenken statt." – Holger Sigmund

fairunterwegs: Uns als Reisende würde interessieren, was kleinere Hotels oder Unterkünfte tun können, die eben kein Geld für teure Zertifikate haben, aber trotzdem nachhaltig super aufgestellt sind. Gibt es z.B. auch kostenlose „Labels“? 

HS: Das ist wirklich ein Thema in der Branche. Es gibt einfach so viele Klein- und Kleinstbetriebe, für die es nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine zeitliche Hürde ist, Zertifizierungen umzusetzen. Nachhaltigkeit ist grundsätzlich nicht „umsonst“. Sie ist aber auch nicht „teurer“ als ein Unternehmen oder eine Organisation zu führen. Man muss sich damit auseinandersetzen. Es gibt bereits viele kleine Gastgebende und touristische Leistungsträger, die in Sachen Nachhaltigkeit sehr viel tun, sogar mehr als Zertifizierungen verlangen. Wenn ein Betrieb nicht zertifiziert ist, heißt das nicht, dass er nicht nachhaltig denkt oder wirtschaftet.  

Eine Zertifizierung bedeutet nur, dass ein Unternehmen seine Maßnahmen systematisch plant, dokumentiert und optimiert, im besten Fall extern überprüfen und verifizieren lässt. Ein Unternehmen kann viel mehr tun, als eine Zertifizierung verlangt. Hinzu kommt, dass die Kriterien hinter einer Zertifizierung nicht das Mass aller Dinge sind. Nachhaltigkeit ist kein erreichbarer Zustand. Auch mit einem Zertifikat ist man nicht 100% nachhaltig. Es ist ein Prozess, der sich entwickelt. Dieser Prozess geschieht nicht von selbst. Er erfordert Engagement, Zeit und letztlich auch Geld. 

fairunterwegs: Verstehe. Gibt es deshalb einfachere Zertifizierungssysteme, z.B. von Green Destinations? Was hältst du davon? 

HS: Ja, einen einfachen Zugang zur Zertifizierung gibt es heute in fast allen Systemen. So groß der Label-Dschungel auch ist, der Anteil der wirklich zertifizierten Betriebe ist verschwindend klein. Meiner Erfahrung nach gelingt ein einfacher Einstieg am besten, wenn die Betriebe dazu motiviert und unterstützt werden, z.B. durch ihre Tourismusorganisation. Genau das ist der Ansatz von Green Destinations. Wir bieten ein Programm mit Werkzeugen, mit denen sich Destinationen und ihre Betriebe gemeinsam auf den Weg machen können. Auf Wunsch bis hin zur GSTC-anerkannten Zertifizierung.   

Für Betriebe gibt es ein eigenes Programm, das Good-Travel-Programm, mit einfachen und kostengünstigen Einstiegsmöglichkeiten. Wir kooperieren übrigens mit dem Schweizer Tourismusverband und dem Schweizer Programm Swisstainable. Wie gesagt: Partnerschaften machen Sinn! 

fairunterwegs: Und wie kommt man weg von einer Haltung des Abhakens hin zu einer lernenden Organisation? Sind Zertifizierungen dabei nicht eher im Weg? 

HS: Das ist eine gute Frage, die ich mir als Berater immer wieder stelle, wenn ich mit Zertifizierungen zu tun habe. Ja, sie können ein Hindernis sein, da sie grundsätzlich das Abhaken ermöglichen. Deshalb liegt es an mir als Berater, wie ich Zertifizierungen bei meinen Kunden einsetze. Ich möchte mich nicht von ihnen abhängig machen, sondern sie dort einsetzen, wo ich sie gemeinsam mit dem Kunden für sinnvoll erachte. So bin ich z.B. bei Green Destinations bewusst ein unabhängiger Vertreter, kann mit den Tools frei arbeiten und sie sinnvoll einsetzen, bin aber wirtschaftlich nicht abhängig und habe die Freiheit, mit einigen Kunden auch bewusst ohne Zertifizierung zu arbeiten. Bei anderen macht es Sinn, eine Zertifizierung einzuführen. Ich spreche dann aber lieber von einem Nachhaltigkeitsprogramm, das mehr ist als die Zertifizierung selbst. 

fairunterwegs: Du stehst Zertifizierungen kritisch gegenüber. Was hältst du von GSTC, wo du selbst Trainer bist? 

HS: Ich verfolge die Entwicklung des GSTC sehr genau. Es ist eine noch recht kleine, aber globale Organisation, die bei den Verbrauchern und der Branche teilweise noch unbekannt ist. Das ändert sich gerade. Mehr Bekanntheit tut gut, sofern die Kriterien gut gemeint sind. Das GSTC bietet – und das muss auch der Branche klar sein – einen gemeinsamen globalen Mindeststandard für nachhaltigen Tourismus. Die Kriterien müssen regional und lokal interpretiert werden. Eine GSTC-Zertifizierung wird meines Erachtens derzeit noch zu oft als höchste Auszeichnung angesehen. Mir wäre es viel lieber, wenn sie als Basis anerkannt würde, auf der wir noch viel mehr Gutes und Tolles entwickeln können, hin zu einem regenerativen Tourismus, der noch weiter geht als „nur“ nachhaltig zu sein.  

Was den Label-Dschungel betrifft, hilft das GSTC, den Konsumenten eine Orientierung zu geben. Anerkannte Standards sind vertrauenswürdig. Diese listet das GSTC auf seiner Website auf. Aber: Ist ein Label nicht vom GSTC anerkannt, heißt das noch lange nicht, dass es schlecht ist. 

fairunterwegs: Zertifizierungen im Tourismus boomen. Macht diese Entwicklung die Branche wirklich nachhaltiger? Oder gäbe es in deinen Augen einen besseren Weg?  

HS: Besser wäre es, wenn die Branche auch ohne Zertifizierungsboom ihre Aufgabe erkennen würde, unsere Gesellschaft zum Umdenken zu motivieren und an einem echten Wandel mitzuarbeiten. Letztlich geht es darum, dass wir alle auf einem Planeten leben, der aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Solange wir auf Kosten anderer leben und reisen, haben wir keine wünschenswerte Zukunft vor uns.  

Zertifizierungen machen die Branche nicht grundsätzlich nachhaltiger, aber sie helfen, wenn sie ernst gemeint sind. Zertifizierungen haben einen ganz anderen Wert für nachhaltig denkende Organisationen und Unternehmen: Sie erleichtern es, Nachhaltigkeit glaubwürdig zu dokumentieren, z.B. gegenüber Mitarbeitern, Geschäftspartnern, Banken oder gegenüber dem Gesetzgeber, der dies zunehmend von Unternehmen verlangen wird. 

fairunterwegs: Vielen Dank für diesen interessanten Einblick, lieber Holger!  

Über Holger Sigmund

Holger ist fairunterwegs-Mitglied und seit über 23 Jahren Touristiker aus Leidenschaft. Er kennt die Branche aus verschiedenen Perspektiven, ihre Schnittstellen und das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure – auch aus der Praxis. Als Berater, Trainer und Unternehmer begeistert er sich für Tourismus & Hospitality. Mit mehr als 22 Jahren Erfahrung kennt er die Branche aus unterschiedlichen Perspektiven, ihre Schnittstellen und das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure. Für seinen Fokus Nachhaltigkeit hat er sich mit Clara zu „TOURISM IMPACT“ zusammengetan, als Kollektiv von praxiserfahrenem Touristiker und zukunftsgestaltender Wissenschaftlerin. Sie begleiten den Tourismus auf Landes-, Destinations- und Betriebsebene und stehen für mehr Optimismus beim Gestalten einer wünschenswerten Zukunft.