Nachlese zum 66. Filmfestival von Locarno: El mudo (Der Stumme)
Die Hauptfigur des Films der beiden Peruaner Daniel und Diego Vega ist ein Richter, der Stellung und Stimme verliert. Constantino Zegarra wird zum tragischen Helden, weil er wie kein anderer in seiner beruflichen und familiären Umwelt an das Justizsystem glaubt, dem er dient. Während seine Kollegen und Vorgesetzte sich längst mit der Korruption und der Ineffizienz dieses Apparats arrangiert haben, achtet er peinlich auf die Einhaltung von Gesetz und Ordnung. Die Mutter eines Delinquenten, die ihn um Milde bat, verflucht und beschimpft ihn deswegen. Sein Auto findet er mit eingeschlagener Fensterscheibe vor. Auf dem Weg nach Hause wird er von einer Kugel getroffen, die ihm die Stimmbänder zerfetzt. Davor ist ihm eröffnet worden, dass er seine Stelle in der Hauptstadt verliere und in die Provinz versetzt werde.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen? Die Polizei verneint das. Jeder der 800 Delinquenten, die er verurteilt habe, könnte sich an ihm gerächt haben. Unmöglich, so viele Personen zu überprüfen. Und so nimmt der rekonvaleszente Richter selber die Ermittlungen auf. Dabei verstrickt er sich selber in die Mechanismen der Käuflichkeit, indem er einen Polizeibeamten mit Geschenken zur Jagd auf mögliche Täter anhält. Bei einer Razzia schliesslich kommt ein wohl zu Unrecht Verdächtigter zu Tode.
Die Handlung spielt auf Originalschauplätzen, in einem Justizgebäude, auf den Strassen von Lima. Das verleiht dem Genrefilm eine Realitätsnähe, die durch das typische Mittelschichtsmilieu, in dem sich das Familienleben abspielt – die kungelnden, aber einflussreichen Kollegen des Vaters, die Existenzsorgen zu Hause, die Tochter – noch unterstrichen wird. Auf diesem Hintergrund treten die quijotehaften Züge der Hauptfigur umso deutlicher hervor. Je mehr sich Kollegen und Familie zur Rückkehr zum business as usual entscheiden, desto hartnäckiger sucht Zegarra nach der Wahrheit. Obwohl unfähig, sich anders als durch schriftliche Notizen verständlich zu machen, lässt er nicht locker. Nur dass seine Tochter sich entgegen der Familientradition gegen ein Jurastudium entscheidet, scheint Constantino Zegarra einen Moment lang aus der Bahn zu werfen.
Schlussendlich bleibt seine Suche ohne Erfolg. Alle Fragen bleiben unbeantwortet, und die Einsamkeit des stummen Richters wird durch die Schlussszene noch grösser: während die Familie mit geladenen Gästen ein Fest feiert, beginnt er einen Stock höher im elterlichen Schlafzimmer mit seiner vor Jahren ermordeten Mutter zu tanzen. Den Toten ist er näher als den Lebenden. Dieses Ende erinnert an Dürrenmatts sarkastisch-realistischen Satz, die Gerechtigkeit sei in einer Etage zu Hause, zu der die Justiz keinen Zugang habe. Dennoch hinterlässt der Film den Betrachter nicht ganz desillusioniert und hoffnungslos. Der stumme Schrei des quijotesken Richters nach Recht hallt nach.
Film: Spielfilm von Daniel und Diego Vega, 2013, 86 Minuten, Spanisch mit englischen Untertiteln.