Rezension und Empfehlung von Literatur glObal, Arbeitsgruppe Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika - EvB

(Al-Šhahhād, 1965. Aus dem Arabischen von Doris Kilias)
Unionsverlag, Zürich 2003
191 S., EUR 16.90, SFr. 29.30
ISBN 3-293-00318-4

Omar, ein angesehener Anwalt, leidet an einer Krankheit, die er selber nicht versteht. Der Besuch bei einem befreundeten Arzt ist ergebnislos. Es liegt kein körperlicher Befund vor. Der Arzt empfiehlt ihm nur eine dringend nötige Gewichtsabnahme und entspannende Ferien. Sonst kann er ihm auch nicht weiterhelfen.
Trotzdem bleiben die Symptome der Unlust und Müdigkeit. In der Arbeit findet Omar keine Befriedigung. Die prickelnde Liebe zu seiner Frau ist ihm ohnehin verloren gegangen, die Töchter sind im fremd geworden und die Freude am Schreiben von Gedichten ist auch längst verschwunden.
Omar versucht, aus allem auszubrechen: Er verlässt seine Familie, hält sich mit seinem Jugendfreund jeden Abend in einer Bar auf und sucht wechselnde Frauenbekanntschaften. Er will sich am Leben berauschen.
Dass diese Krankheit aber mehr als eine normale Midlife-Crisis ist, zeigt sich, als sein Freund Osman nach langer Zeit aus dem Gefängnis entlassen wird. Dieser war zusammen mit Omar Mitglied einer revolutionären Gruppe. Bei einem Attentat wurde Osman gefangen genommen. Dennoch verriet er seine Gefährten nie und sass all die Jahre sozusagen auch für sie im Gefängnis.
Osman wird nun frei gelassen und will die Welt neu erobern. Da trifft er seinen kranken Freund Omar wieder, dem dieses Leben fremd geworden ist und der in der Zurückgezogenheit und im Rausch eine übersinnliche Welt sucht.
Osman ist erstaunt: Wo sind die alten revolutionären Ideen geblieben, jetzt, wo der sozialistische Staat die Revolution verkörpert? Ist wirklich alles im Alltag, im Konsum und in der beruflichen Karriere erstickt? Wo bleibt die Begeisterung für die Veränderung der Welt?
In dichten Sätzen und mit hoher dichterischer Qualität beschreibt Nagib Machfus nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern er zeigt auch, wie der einzelne Mensch in ein Umfeld und in eine lange, zum Teil im Dunkel bleibende Geschichte eingebunden ist. Besonders eindrücklich ist die Suche nach dem Sinn des Lebens.
Der heute 93-jährige Nagib Machfus gilt als bedeutendster Schriftsteller der arabischen Welt. 1988 erhielt er für seine zahlreichen Romane, Kurzgeschichten und Novellen den Literaturnobelpreis.
Seine ersten Romane aus den dreissiger Jahren spielen in der Pharaonenzeit und entsprechen dem damals in Ägypten herrschenden nationalistischen Trend, sich literarisch mit der Vergangenheit zu beschäftigen.
Doch schon bald wechseln bei Nagib Machfus die Themen: Im Vordergrund stehen nun sozialkritische Schilderungen der gegenwärtigen Lebenswelt und ihrer Missstände. Zu dieser Phase seines Wirkens gehört auch der Roman „Die Kinder unseres Viertels“, der in Ägypten nicht erscheinen konnte.
Das neueste endlich auf Deutsch vorliegende Werk „Der Rausch“, zeigt eine andere Thematik, die im späteren literarischen Schaffen für Nagib Machfus bestimmend war: Im Mittelpunkt steht eine Hauptperson, die frustriert und sich selber fremd geworden ist, weil sie ihre Ideale verloren hat.

Michael Schwarz

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