Seit über zwei Jahrzehnten wehrt sich die Adivasi-Bevölkerung im Narmada-Tal im indischen Bundesstaat Gujarat gegen Enteignung und Vertreibung im Zusammenhang mit dem umstrittenen Sardar Sarovar Staudamm-Projekt. Nun droht neue Gefahr. Sechs Dörfer in der Nähe des Staudamms sollen dem Tourismus weichen.
Das Land, das für den Tourismus zur Verfügung gestellt werden soll, ist rechtlich in Händen der Sardar Sarovar Narmada Nigam Ltd. (SSNNL), einem Unternehmen des Bundesstaates Gujarat zur Umsetzung des Sardar Sarovar Staudamm-Projektes. Zum Bau des Staudamms und des Narmada-Hauptkanals wurden seit Anfang der 1960er Jahre grosse Teile der indigenen Bevölkerung (Adivasis) entlang des Narmada-Flusses in den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Gujarat und Maharashtra «im öffentlichen Interesse» enteignet und vertrieben. Familien, deren Land überschwemmt wurde, sind als «vom Projekt betroffene Personen» anerkannt, mit dem entsprechenden Recht auf Entschädigung – «Land für Land».
Nicht als betroffen anerkannt wurden die Familien aus sechs Dörfern nördlich vom Staudamm. Sie wurden zum Bau der «Kevadia Colony» enteignet, einer Siedlung für die Mitarbeiter des Staudammprojektes. Mit der Enteignung verloren sie die Rechte an ihrem hauptsächlich landwirtschaftlich genutzten Grundbesitz – ihrer Hauptlebensgrundlage. Sie erhielten eine minimale Entschädigung, ohne Anspruch auf Umsiedlung oder Recht auf Land. Seit Mitte der 1980er Jahre setzt sich Narmada Bachao Andolan (NBA), die Bewegung zur Rettung des Narmada-Flusses, für ihre Rechte ein. Dank ihres unermüdlichen Widerstandes sind viele der Familien bislang nicht vertrieben worden. Sie haben teilweise sogar ihr angestammtes Land weiter bewirtschaftet. Wenn nun der Tourismus Fuss fasst, droht den rund 900 Familien – insgesamt über 4’500 Personen – die Vertreibung.
«Eine Rupie säen, einen Dollar ernten» will der Bundesstaat Gujarat laut seiner industriepolitischen Leitlinien. Mit dem Tourismus am Narmada-Staudamm könnte diese Rechnung aufgehen. Im vergangenen Jahr besuchten bereits rund 470’000 Touristen den Staudamm. An Wochenenden lag die Besucherzahl bei durchschnittlich jeweils 5’000-10’000, unter der Woche bei jeweils 500 bis 2 000 pro Tag. Die meisten Besucher waren indische Tagesbesucher aus grossen Städten wie Mumbai, Ahmedabad und Vadodara.
«Das Problem ist, dass bislang kaum touristische Infrastruktur zur Verfügung steht», meint SSNNL-Tourismusdirektor V.C. Patel – und will das nun ändern. Derzeit prüft SSNNL verschiedene Tourismuspläne, darunter einen Mehrphasenplan der Kevadia Area Development Authority, der unter anderem Picknickplätze, Gesundheitstourismus, Wasser- und Abenteuersport vorsieht. «Das Gebiet wird für den Tourismus entwickelt. Deshalb wird die Planung den Bedürfnissen der Touristen Rechnung tragen», sagt Patel. Es sei bereits eine Genehmigung zur Umsiedlung der Krokodile aus dem Stausee eingeholt. Ein anderer Plan sieht nach Presseberichten «Ökotourismus» mit Wasservergnügungsparks, Golfplätzen, Hotels und Restaurants auf einer Fläche von 1 400 Hektar vor.
«Doch ‚öko’ heißt: ökonomisch», kritisiert die renommierte Aktivistin Medha Patkar von Narmada Bachao Andolan. «Das Projekt dient der Privatwirtschaft und keineswegs dem öffentlichen Interesse, aufgrund dessen die Menschen damals enteignet wurden.» Ihre Forderung deshalb: Anerkennung der Betroffenen als «vom Projekt betroffene Personen» mit den entsprechenden Rechten auf Entschädigung, Rückgabe des nicht für das Sardar Sarovar Projekt genutzten Landes an die ursprünglichen Eigentümer und vor allem: «Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!»Christina Kamp, Journalistin, Wayanad, Indien, 10.10.2005