Ngũgĩ wa Thiong’o: Im Haus des Hüters
Erinnerungen an eine Jugend im britischen Kenia. Es ist die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, chaotische Zustände herrschen; 1955 ist der bewaffnete Aufstand der Mau-Mau-Bewegung für Kenias Unabhängigkeit in der brennendsten Phase. In dieser Zeit geht der 16-jährige Ngũgĩ wa Thiong’o auf die berühmte Alliance Hight School und lebt in einer seltsamen Doppelwelt. Innerhalb der Internatsschule sind die Tage geordnet, die Erfahrungen mit Lehrern und Mitschülern bereichernd und die Bildung ist von bester Qualität. Draussen aber ist ein Zustand höchster politischer Unruhe, die englische Kolonialmacht siedelt ganze Dörfer um, die Aufständischen toben und es fliesst viel Blut.
Brillant weiss der Autor seine innere Zerrissenheit, seine Ängste und seinen Wissensdurst in Worte zu fassen. Ngũgĩ gehörte zur kleinen Elite von jungen Afrikanern, welche die Aufnahme in die Alliance High School für schwarze Jungen schafften. Deren Lehrer, weisse wie schwarze, legten den Grundstein für die Entwicklung des grossartigen afrikanischen Autors. Besonders eindrücklich sind für mich Ngũgĩ’s Auseinandersetzungen mit dem christlichen Glauben, der ihm allen Zweifeln zum Trotz Halt gab. Mich als europäische Leserin faszinieren vor allem Fragen wie "War Jesus eigentlich weiss- oder dunkelhäutig?" Von Kapitel zu Kapitel wird das Buch "Im Haus des Hüters" spannender, eindringlicher. Im letzten Kapitel, das 1958 spielt, landet der mit Bestnoten ausgestattete Schulabgänger im Gefängnis. Und ein neuer Zwiespalt treibt ihn um: Ehrlichkeit oder Freiheit?
Der 1938 geborene Ngũgĩ, der schon sein Leben lang gegen die kolonialen und postkolonialen Systeme geschrieben hat, floh 1982 nach London und ging später in die USA. Heute ist er Professor für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaften in Kalifornien.
Bemerkenswert ist auch die Arbeit des Übersetzers Thomas Brückner. Der studierte Afrikanist, Kultur- und Literaturwissenschaftler ist Autor, Vorleser, Jazz-Lyriker und leidenschaftlicher Kulturvermittler. Man spürt, dass er Afrika und seine Menschen kennt und liebt! Der Funke springt über, denn auch die Schwarzweissfotos aus Ngũgĩs Schulzeit und ein ausführliches Glossar geben dem Erzählten Lebendigkeit.
A1 Verlag, München 2013, 248 Seiten, SFr. 28.50, Euro 19.90, ISBN 13: 978-3940666352
Diese Besprechung erschien in der Zeitung syndicom der gleichnamigen Gewerkschaft Nr. 9 vom 7. Juni 2013. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.