Zum Abschluss der Fairunterwegs Anreise-Challenge nach Menorca: Kein Preis, dafür eine eigene Reise
Tag 1
Ehrlich gesagt hatte ich befürchtet, die 14-stündige Flixbus-Reise werde öde und ziehe sich ewig in die Länge. Aber weit gefehlt.
Vor dem Einsteigen hatte ich eine Nonne gebeten, kurz auf mein Gepäck aufzupassen, während ich beim nächsten Bankomat Geld beziehen wollte. Als ich zurückkam, versuchte sie gerade mit ganzer Kraft, mein Gepäck und ihres gleichzeitig irgendwie in den Bus zu hieven. Sie war ganz erleichtert, als sie mich rechtzeitig zurückkehren sah.
Später erzählte sie, sie sei mit 18 aus den Philippinen in die Schweiz gereist und habe sich den "Sorelle zelante del sacro cuore" angeschlossen, einem katholischen Konvent. Seit nunmehr 25 Jahren lebt sie mit zwei Schwestern zusammen in Lampugnano. Die eine der Schwestern arbeitet als Lehrerin, die andere in einem Spital.
Sie verbringt ihren Alltag mit Katecheseunterricht in einer Schule und dem Besuch von Alten und Kranken. Anders als im Kloster sei ihre Schwesternschaft aktiv in der Gesellschaft, betont sie.
Das Zusammenleben mit ihren Schwestern sei manchmal eine Herausforderung, ab und zu gebe es auch Streit, das sei menschlich.
Sie hat auch zwei leibliche Schwestern. Die eine in Basel, die bei Coop arbeitet, hat sie eben besucht. Die andere arbeitet in einem Spital in München. Ihre Eltern in den Philippinen darf sie alle drei bis fünf Jahre besuchen – eine vernünftige Flugbeschränkung, scheint mir.
Es sei eine Wahl, die sie für ihr Leben getroffen habe, und diese sei halt auch mit Verzicht verbunden – etwa dem Verzicht auf intime Beziehungen zu Männern. Aber sie sei zufrieden.
In Milano wechselte der Chauffeur. Der erste war elegant, humorvoll und relativ unauffällig. Der zweite war ein Typ-A herzinfarkt-gefährdeter Diktator. Da ich ihm keine Angriffsfläche bot, kam ich glimpflich davon. Aber er schimpfte links und rechts mit seinen KundInnen. Eine, die ihren Sauerstoffapparat und ihre Diabetesmedikamente separat mit dem Handgepäck hineinnehmen wollte, schikanierte er dermassen, dass sie in Tränen ausbrach. Da stand ein Held auf, der das beobachtet hatte, ging hinaus und nahm sich der armen Frau an. Sie hat mir das Trauma und die Rettung später haarklein erzählt. Erst einmal aber sass sie heulend neben ihrem Retter, der sie auf Arabisch leise beruhigte. Sie werde sich bei Flixbus über den Chauffeur beschweren, sagte sie immer wieder, und auch andere Gäste zischten ihre Wut über den ungehobelten Chaffeur hin und her, insbesondere, weil er auch rasant kurvenschneidend und alle überholend fuhr, als sei es der letzte Tag.
Derweilen war ich mit meinem neuen Sitznachbarn beschäftigt. Er heisst Dahan Abdelfatah und ist Diplomat für die Westsaharaouis in der Lombardei und noch einer Provinz Italiens. Das erzählte er mir, nachdem wir uns erst über Belanglosigkeiten und dann über ein paar politische Themen unterhalten hatten. Er zeigte mir Bilder des saharaouischen Flüchtingslagers in Algerien, seinen Diplomatenpass, der aber inzwischen abgelaufen sei, jetzt nutze er nur seinen spanischen Pass. In den vielen Stunden, in denen wir uns bestens unterhalten haben, ist mir irgendwie nicht klargeworden, ob sein Lebensmittelpunkt im saharaouischen Flüchtlingslager ist, wo sein Frau lebt, sowie sein 23-jähriger Sohn und seine Tochter, oder ob er in Italien liegt, wo er sich mit verschiedenen PolitikerInnen trifft, um die Situation der Saharaouis darzulegen oder ob sein Lebensmittelpunkt in Barcelona liegt…. Jedenfalls scheint er sein Leben zu geniessen.
In Nizza kam ein neuer, unauffälliger Chauffeur, der uns problemlos bis nach Toulon brachte, wo ich mich um 22:30 von meinem Begleiter verabschiedete, nachdem wir uns mit Selfies verewigt und die Natel-Nummern ausgetauscht hatten.
Ich brauchte einen Moment, um mich in Toulon zu orientieren, ich hatte die Strecken überschätzt und lief viel zu weit, obwohl das Hotel Bonaparte eigentlich nahe am Bahnhof und nahe am Hafen lag. Ich war im 3. Stock (ohne Lift) einquartiert, in einem süssen Zimmer, das ohne Ventilator wohl kaum bewohnbar wäre, mit war es aber ganz o.k.
Tag 2: Toulon
Zeit, um mich in Toulon etwas umzuschauen und mir eine FREE-SIM-Karte zu kaufen, mit der ich hoffentlich überall in der EU Internetzugang habe. Nach einem unglaublich grosszügigen Frühstücksbuffet machte ich mich Richtung Hafen auf und fand ein freundliches Paar, das mir weiterhalf. Sie fuhren in die gleiche Richtung und konsultierten eifrig ihr Handy, um mir genau Auskunft zu geben, wo sich die FREE Vertriebsstelle befand und wie ich wieder zurückfinden würde.
An der Avenue 83 besorgte ich mir die FREE Karte. Als Zweites musste ich mir einen europatauglichen Zwischenstecker besorgen. Auch hierfür wurde ich wieder von hilfsbereiten ToulonesInnen zum richtigen Laden gewiesen. Und der Buschauffeur drückte ein Auge zu, obwohl ich mein Billett nicht ordnungsgemäss entwertet hatte.
Auf der Rückreise achtete ich auf die verschiedenen, das Zentrum umgebenden Zonen. Da war die Shopping-Meile, mit den Elektronikhändlern, der Mode-Avenue, den Restaurants verschiedener Stile und kulinarischen Weltzonen, dem Lidl, den Handwerkszentren. Dann folgten eher reichere Wohnquartiere, dann der ärmere Wohn-Hochhaus-Gürtel und schliesslich die Infrastrukturen wie der Hafen, das Rugby-Stadion und die Parkhäuser und schliesslich das historische Zentrum bis zum Militärhafen.
In der Umgebung der Préfécture Maritime suchte ich nach einem Park zum Picknicken. ToulonesInnen scheinen das nicht zu tun, jedenfalls sassen auf den Stufen zum Park unter den Platanen nur Afrikaner. Einer setzte sich in meine Nähe und versuchte so gut wie möglich nicht zu mir hinzuschauen. Aber man sah ihm an, dass ihm gerade elend zumute war. Nachdem ich genug von meinem Roggenvollkornbrot und dem feinen Hummus von der Migros gegessen hatte, sprach ich ihn an und fragte ihn, ob er auch davon wolle. Er nickte, und so kamen wir ins Gespräch. Während er zwei Hummus-Sandwiches verschlang, skizzierte er seine Lebenssituation. Evans stammt aus Nigeria. Dort ist er vor neun Jahren, im Alter von 25, in Richtung Libyen aufgebrochen. Sein Ziel war, genug Geld zu verdienen, um in Nigeria heiraten zu können. Doch dann war Krieg in Libyen und er floh über das Mittelmeer nach Italien. Dort kam er in die Fänge von Menschenhändlern – worüber er nicht mehr sagen wollte. Einfach, dass er sich nach Toulon absetzte, wo er seit letzten Dezember lebt.
Doch hier ist es auch nicht besser: Er findet keine Arbeit und muss sich jeden Monat in Marseille melden, damit sein Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung nicht verfällt und er ausgewiesen wird. Anfangs zahlte ihm eine NGO die Reise von Toulon nach Marseille und zurück. Die letzten zwei Monate hat er die Reise selber berappt. Doch letzte Woche wurde er in der Unterkunft beraubt. Seine letzten € 382.95 und sein Handy waren weg, und er musste am nächsten Tag nach Marseille, was er mir mit der Vorladung gleich belegte. Evans blühte sichtbar auf, als ich im die € 30 für die Hin- und Rückfahrt nach Marseille hinstreckte und ihn auch noch auf einen Kaffee einlud, und er erzählte mir ausführlicher über die Situation in Nigeria. Danach verabschiedete ich mich von ihm. Vielleicht schaffen wir es, uns nochmals zu treffen auf meiner Rückreise. Er wird am Brunnen neben dem Kaffee warten am Abend, an dem ich von Alcùdia in Toulon ankomme, und auch an dem Morgen, bevor ich den Zug nach Basel nehme. Und wenn ich ihn dort treffen sollte und Zeit habe, lade ich ihn auch gerne nochmals auf einen Kaffee ein.
Ich hatte eigentlich nicht gedacht, dass mich Toulons militärische Vergangenheit faszinieren könnte, aber tatsächlich verbrachte ich geschlagene 2.5 Stunden im Musée Maritime (wobei ventilierten Zimmer sicher attraktiver waren als die unerbittliche Sonne draussen) und erfuhr von der steten Erweiterung des Hafens, den Raubzügen der Offziere von Louis XIV und XV, von Napoleons Innovationen, Feldzügen von Toulon aus und seiner Niederlage, von der Sabotage der Marine an den eigenen Kriegsschiffen, damit sie nicht den Deutschen in die Hände fallen, von Freuden und Leiden der militärischen Ausbildung und der Entwicklung des Marktes bis zur Gewerbeschau 1962.
Danach holte ich meinen Koffer ab und schlenderte gemütlich Richtung Anlegestelle der Corsica-Ferries, an der Basilica der Santa Maria di Sen, dem Markt vorbei und mit einem Schlenker ins Musée Historique von Toulon mit seinen Hafen- und Landschaftsbildern begnadeter lokaler KünstlerInnen.
Hier begann der Teil, den ich eher mühsam fand. Mein Platz war ein Sitz in einem Zimmer mit Flugzeugbestuhlung im Inneren des Schiffs gleich über den Garagen. Es gab nicht einmal eine Fussstütze für meine geschwollenen Beine. Also verstaute ich mein Gepäck und schaute mich in den Restaurants um. Nach meiner Bestellung hatte ich Dreiviertel Stunden Gelegenheit, dem Personal bei seiner Servierschlacht zuzuschauen. Der Chef de Service terrorisierte seine neapolitanischen KollegInnen, die alle mehr oder weniger gut mit dem Stresskopf zurechtkamen. Alle machten einen überreizten Eindruck – waren sie schon zu viele Tage im Dauereinsatz?
Ich machte es wie die anderen und suchte mir einen inoffiziellen Schlafplatz. Das heisst: ich schaute einen Netflix-Film, und sobald sich die Belegschaft nach Mitternacht zur verdienten 5 1/2-Stunden Nachtruhe begab, machte ich mich im Restaurant auf dem Sofa breit und versuchte, etwas Schlaf zu finden.
Immerhin landeten wir rechtzeitig in Alcùdia, wo ich es mir auf einer Bank bequem machte. In einer Stunde würde ich bei der Balearia einchecken können. Nachdem ich das gemacht hatte, suchte ich mir einen Fensterplatz – und wartete. Das Schiff hatte eine Stunde Verspätung wegen eines technischen Problems. Also holte ich mir ein "continental breakfast", bestehend aus einem Muffin und einem Saft, und schlief danach in meinem Stuhl ein. Als ich aufwachte, weinten Kinder, mehrere Erwachsene hatten Brech-Säcke vor ihrem Mund und in der Küche fiel etwas zu Boden: Der Wellengang war recht heftig – und ich freute mich, dass ich offenbar seefest bin. Hier war meine Reise noch nicht zu Ende. Wohl aber der Fahrplan für die Busse vom Hafen oder die Lust der Taxifahrer, hier auf verspätete Fahrgäste zu warten. Kein öffentliches Transportmittel weit und breit, das mich in die Stadt zur Bushaltestelle bringen konnte. Ich hörte Schweizerdeutsch und sprach eine Zürcher Familie an, die bereit war, mich in ihrem Wagen mitzunehmen. So reichte es mir gerade noch rechtzeitig auf den Bus Nr. 72 (der nächste Bus wäre erst 2.5 Stunden später gefahren). Ich rief meinen Airbnb-Vermieter an, der mich in Es Migjorn Gran abholte. Hier endete meine Anreise.
Fazit
- Flixbus-Fahren ist eine tolle Gelegenheit, Menschen kennenzulernen. Der Zug ist dafür viel schneller.
- Ein nächstes Mal werde ich auf der Fähre sicher eine Kabine buchen (habe ich für die Rückreise getan).
- Ein nächstes Mal werde ich vielleicht auch eher über Barcelona reisen – von dort dauert die Überfahrt nur etwa 6.5 Stunden. Von Toulon hingegen 10.5 Stunden. Nichts gegen Langsamreisen – aber die Fähre ist dafür nicht attraktiv genug.
- Zwischenhalte wie der in Toulon sind keine Zeitverschwendung, sondern eine Bereicherung.
Meinen Bericht schliesse ich mit ein paar Bildern von meinen ersten zwei Tagen in Es Migjorn Gran ab.