Nirmal Verma: Ausnahmezustand. Roman
(Rat ka reporter, 1989. Aus dem Hindi von Hannelore Bauhaus-Lötzke und Harald Fischer-Tiné)
Draupadi Verlag, Heidelberg 2006
154 Seiten; € 14.80; sFr 24.–
ISBN 3-937693.96-9
Lähmende Angst
„Nichts geschieht zufällig. Wir können nur von Zufall sprechen, weil wir die ganze Kette der Zusammenhänge nicht sehen.“ An diese Worte seines Freundes Thorgier erinnert sich Rishi nach dem Treffen mit dem mysteriösen Fremden. Der Mann warnte ihn: Auch Rishi stehe auf der Liste. Die Geheimpolizei wisse alles über ihn, in seiner Akte sei sein Leben bis ins intimste Detail aufgezeichnet. Zu Hause erhält er Anrufe, bei denen sich niemand meldet, nur eine unheimliche Stille macht sich breit. Kürzlich wurde sein Freund Anup Bhai abgeholt. Steht auch seine Verhaftung kurz bevor? Rishi hat Angst. Wissen sie mehr über ihn als er selbst? Gibt es in seinem Leben Zusammenhänge, die er sich nicht eingesteht?
Da ist seine Arbeit als Journalist, seine Reisen und Reportagen. Er hat den Dalai Lama interviewt, sah Not leidende Menschen. Zuletzt bereiste er Bastar, das Land der Adivasi, der Stammesbevölkerung. Er will die Wahrheit ergründen und sie in seinen Dokumentationen darlegen. Aber ist da nicht auch eine Lüge? War die Reise nach Bastar nicht eine Flucht vor den ihn bedrängenden Fragen, vor seinem privaten Leben? In seinem Haus fühlt sich Rishi fremd. Die leeren Zimmer erinnern vage an frühere Bewohner und ihr Schicksal. Jetzt lebt er dort allein mit seiner Mutter, deren Gedanken sich oft in anderen Sphären zu bewegen scheinen und deren gebrechlicher Körper sich immer mehr zur Erde neigt. Aber sie ist das Bindeglied zu seiner Frau Uma, die in der Klinik liegt. Uma kann das Zusammenleben mit ihm nicht mehr ertragen und entzieht sich ihm durch eine seelische Starre in eine andere Welt. Licht bringt nur Bindu in sein Leben. Sie verzaubert mit ihrer Natürlichkeit, ihre Bewegungen sind geschmeidig wie die einer Adivasi, bei ihrem Anblick denkt man unwillkürlich an Tiere und Pflanzen. Bindu ist Rishis Geliebte, seine erste wirkliche Liebe.
Der Roman „Ausnahmezustand“ spielt in Delhi zu Beginn des Ausnahmezustandes, den Indira Gandhi von Juni 1975 bis März 1977 über Indien verhängte. Die Stadt ist keine pulsierende Metropole, sie wirkt wie gelähmt. Es gibt leere Strassen, leere Wohnungen, ein ausgetrocknetes Flussbett. Viele Menschen sind abwesend, andere alt oder krank. Die Angst scheint allmählich allgegenwärtig. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die persönliche Geschichte Rishis. Die aussergewöhnlichen Ereignisse zwingen ihn, sich mit seinem innersten Leben auseinanderzusetzen. Für Nirmal Verma war die Zeit des Ausnahmezustandes ein traumatisches Ereignis und er lässt eigenes Erleben in die Handlung einfliessen. Er macht das Gefühl von Angst und Bedrohung förmlich greifbar. Mit grosser Sensibilität setzt er sich mit der Situation der Menschen und ihren innersten Gedanken auseinander. Ein grossartiges Buch!
Elke Müller
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