Eva Marti: Wie seid ihr auf das ferne Fischerdorf Prainha do Canto Verde aufmerksam geworden?

Klar dank René Schärer. Mitte der Neunzigerjahre wurde Prainha do Canto Verde von Handlangern des Immobilienspekulanten Henrique Jorge gewaltsam überfallen. Gigantische Tourismusausbaupläne von Prodetur-Ceará in Zusammenarbeit mit der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurden bekannt. René suchte aktiv die Unterstützung von Solidaritätsorganisationen in der Schweiz. Über die "Erklärung von Bern" fand er zu uns. Ich kann mich gut erinnern, wie beeindruckt, ja schockiert, wir auf der tourismuskritischen Fachstelle waren von seinem Bericht über die Gewalt, die ständigen Drohungen, Einschüchterungen und Schmiergeldzahlungen – über den massiven Druck, der auf die kleine Fischergemeinde ausgeübt wurde. 1995 berichteten wir in unserem Newsletter über den neuesten brutalen Überfall, bei dem Häuser von Fischern in Brand gesetzt wurden. Zugleich konnten wir einen deutschen TV-Sender, der sich eben für eine Reportage nach Brasilien aufmachte, mit René in Verbindung setzen. So zeigte das deutsche Fernsehen Bilder der Brandschatzung in Prainha do Canto Verde. Was den brasilianischen Behörden gar nicht gefiel.

Weshalb habt ihr René Schärer von Anfang an unterstützt?

Überzeugt hat uns die Strategie von Prainha do Canto Verde, die René Schärer uns aufzeigte, wie die Dorfgemeinschaft im harten Kampf um ihre Landrechte die Entwicklung des Tourismus selbstbestimmt an die Hand nehmen will. Mehr noch das umsichtige Vorgehen, Tourismus Schritt für Schritt als Projekt der ganzen Gemeinschaft in Ergänzung zum Haupterwerbszweig der Artesanal-Fischerei aufzubauen, dafür in erster Linie die Rechte auf Land und Massnahmen zum Schutz der fragilen Küste zu erwirken, die traditionelle Fischerei zu stärken und zudem die Gemeinde gezielt für den Aufbau des Tourismus vorzubereiten und zu organisieren. So wurden für den Schulunterricht die Lehrmittel neu gestaltet, welche die Kultur und Naturschätze der Gemeinschaft besser in Wert setzen. Die Schule wurde auch für die vielen Erwachsenen geöffnet, die im armen Bundesstaat Ceará noch nie eine Chance hatten, lesen und schreiben zu lernen. Eine Tourismuskooperative bzw. ein Tourismusrat wurde eingerichtet. Der kümmert sich um die gerechte Zuteilung der Reservationen auf die bestehenden Gastbetten in der Gemeinde, aber auch um die Vermarktung von Handwerk für den Souvenirverkauf und die Vergabe von Krediten oder Stipendien aus den gemeinsam erhobenen Abgaben aus dem Tourismus für die Qualifizierung von künftigen TourismusanbieterInnen und Angeboten. Nur dies ermöglicht eine selbstbestimmte und gerechte Verteilung der Einkommen aus dem Tourismus und dem Verkauf von Kunsthandwerk.
Wir haben deshalb seit 1995 die Entwicklung von Prainha do Canto Verde mit seiner Netzwerkarbeit in Ceará und seiner Ausstrahlung auf ganz Brasilien und darüber hinaus eng verfolgt. Dabei haben wir enorm viel gelernt und konnten die Erkenntnisse über ein erfolgreiches selbstbestimmtes Vorgehen im "Turismo Comunitario" weitertragen. Gerne feierten wir die Erfolge von Prainha do Canto Verde bei Wettbewerben für sozialverantwortlichen Tourismus mit, organisierten Veranstaltungen hierzulande, suchten Unterstützung, wirkten an internationalen Konferenzen zum Nachhaltigen Tourismus in Brasilien mit und brachten in der internationalen Netzwerkarbeit das Erfolgsmodell zur Präsentation, wie etwa auf dem Weltsozialforum 2004 in Mumbai.

Wie beurteilt ihr das Vorgehen von René Schärer und Prainha do Canto Verde auch im Quervergleich mit Projekten aus anderen Weltgegenden?

René Schärer und Prainha do Canto Verde haben sich gefunden – es ist wohl ein seltener Glücksfall, zu dem René mit seiner Persönlichkeit und seinem Einsatz enorm beigetragen hat. Er und sein umsichtiges Vorgehen in enger Absprache mit der Dorfgemeinschaft heben sich ab von den vielen "Entwicklungshelfern" aus den Industrieländern, die mit ihren Ideen und Vorstellungen zu "Community based"-Tourismusinitiativen in den Destinationen letztlich gescheitert sind. René Schärer vermochte mit der Gemeinschaft Strategien zu entwickeln, die Tourismus von Beginn weg klar als ergänzendes Einkommen zum Haupterwerb aus Fischerei und Landwirtschaft und zu deren Stärkung konzipierten und mit der notwendigen Organisation der Gemeinschaften auch für eine breite Verteilung der Einkommen aus dem Tourismus sorgten. Mit ihrem Konzept des "Turismo Comunitario" begeben sich die Gemeinschaften auch nicht direkt in die Abhängigkeit der volatilen internationalen Kundschaft, sondern setzen in erster Linie auf leichter erreichbare Gäste aus der Region. Das alles hat Prainha do Canto Verde zu einem Vorzeigebeispiel für "Turismo Comunitario" gemacht und bereits zahlreiche weitere Gemeinschaften in Brasilien und darüber hinaus für einen gangbaren Weg im Tourismus beflügelt, wie zum Beispiel die im Netzwerk TUCUM zusammengeschlossenen Gemeinden. Das Netzwerk TUCUM wurde 2008 – wie zuvor Prainha do Canto Verde selbst im 1999 – mit dem prestigeträchtigen Preis für sozialverantwortlichen Tourismus "ToDo!" ausgezeichnet und erhielt 2011 vom Banco do Brasil den Preis als "Leuchtturmprojekt" für Sozialentwicklung.

Was gebt ihr vom arbeitskreis Prainha do Canto Verde und René Schärer mit auf ihren Weg?

Obrigado! Erst einmal ein grosser Dank an die Dorfgemeinschaft und insbesondere an Beto, Marly, Aila, Jaila, Marlene, Lindomar sowie all die vielen weiteren EinwohnerInnen der engagierten Gemeinschaften in Ceará, die uns grosszügig Einsicht in das Leben im Dorf verschafft haben. Und ein besonders grosses Dankeschön an René Schärer. In unserer langen Arbeit zur tourismuskritischen Auseinandersetzung und Begleitung von neuen Entwicklungen ist uns sein Wirken ein wichtiges Vorbild. Dass ich 2003 und 2008 in Prainha do Canto Verde so gastlich aufgenommen wurde, die Projektpartner besuchen und vor allem auch an den beiden internationalen Konferenzen zum Nachhaltigen Tourismus in Fortaleza mitwirken konnte, war für mich persönlich eine einzigartige Erfahrung, die auch die Arbeit im arbeitskreis tourismus & entwicklung bereicherte. Wir haben es immer sehr geschätzt, dass René auf seinen Besuchen in der Schweiz trotz seinem übervollen Terminkalender noch Zeit für ein Treffen mit uns einräumte. Die Diskussionen mit ihm über die Entwicklungen in Brasilien und in Tourismus und Fischerei weltweit sind für uns im arbeitskreis sehr wichtig – gerade auch im Hinblick auf die Stärkung der Stimme von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu den aktuell herausfordernden Themen des Tourismus wie Armutsüberwindung, Ernährungssicherung, Landschafts- und Küstenschutz und Klimawandel.
Bleibt weiter dran und haltet uns auf dem Laufenden! Auf dass wir vom arbeitskreis Euch in Eurem Kampf um Lebensgrundlagen weiterhin unterstützen können. Wir hoffen sehr, dass wir den fruchtbaren Austausch und unsere Freundschaft mit René, seiner Familie und den engagierten Menschen, die wir in Prainha do Canto Verde und anderen Dörfern kennen gelernt haben, weiter pflegen können.