Öltropfen auf den heissen Stein – eine Reise zu den Olivenhainen in Palästina
Herbst ist Erntezeit in Palästina: Nach dem ersten Regen, der den Staub wegwäscht, gehen die Familien auf die Felder, um ihre Oliven zu ernten und später daraus Öl zu pressen. Die Erntezeit ist eine schöne Zeit, die Verwandten kommen zusammen, man hilft sich und feiert viel. Gleichzeitig sind die Einschränkungen allgegenwärtig, die durch die Besatzung bedingt sind. Dieser Gegensatz ist im palästinensischen Alltag sehr präsent – die Zeit der Olivenernte ist daher ein sehr anschauliches Beispiel der Realität, weshalb auch ausländische BesucherInnen oft diesen Zeitpunkt wählen, um dem Land einen Besuch abzustatten.
“Taa’alu hon! Kommt hierher!” – Energisch nimmt uns Imm Ibrahim*, die ältere Bäuerin und Autoritätsperson auf dem Feld, die Eimer weg. Wir haben zu Viert an einem Baum Olive für Olive gepflückt, aber offensichtlich hat sie nicht viel übrig für unseren gemütlichen und individuellen Pflückstil. Wir gehen zu ihrem Baum rüber. Dort liegen Tücher unter dem Baum ausgebreitet, und Imm Ibrahim zeigt uns, wie wir mit etwas Krafteinsatz und Geschick Ast für Ast von seinen Früchten befreien und die ganze Ernte am Schluss im Nu in grosse Säcke abfüllen können.
Nicht nur die Pflücktechnik ist neu. Es ist unser erster Ernteeinsatz im diesjährigen Olivenernteprogramm der Alternative Tourism Group und der Joint Advocacy Initiative des palästinensischen CVJM (Christlicher Verein junger Männer) und CVJF (Christlicher Verein junger Frauen). Eigentlich wollten wir an diesem Morgen ein Feld hinter dem nahegelegenen Checkpoint erreichen. Das gesamte Land hier gehört Einwohnern des Dorfes Jaba’a, das zwischen Bethlehem und Hebron in den westlichen Hügeln liegt. Doch in den letzten Jahren wurde hier, auf konfisziertem Land des Dorfes, die Mauer in einiger Distanz von der bis 1967 geltenden Grenze zwischen Israel und den zu Jordanien gehörenden palästinensischen Gebieten gebaut. Alles, was jetzt zwischen der Mauer und dieser unsichtbaren Grenzlinie liegt, kann nur erreichen, wer zuerst den Checkpoint der israelischen Armee passiert. Meistens werden lediglich der Landbesitzer selbst und vielleicht noch seine Frau durchgelassen, oftmals ältere Menschen, die nicht alleine ganze Olivenhaine ernten oder andere landwirtschaftlichen Arbeiten verrichten können. So sagen die Soldaten auch heute, dass sie zuerst Abklärungen beim regionalen Koordinationsbüro der Armee machen müssen, bevor sie uns durchlassen können. Für sie heisst es Zeit gewinnen; für uns jedoch bedeutet jede verlorene Minute auch eine Minute weniger Oliven pflücken, denn das zehn Tage dauernde Programm ist dicht gefüllt mit Pflücken, Menschen begegnen, Organisationen kennenlernen und Sehenswürdigkeiten erkunden.
Aber auch auf dem Feld vor dem Checkpoint ist das Ernten eine wunderbare Erfahrung. Wir versuchen verschiedene Techniken aus und hören gespannt den Geschichten des Bauern und der lokalen HelferInnen zu. 65 Freiwillige aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten sind für dieses Programm angereist, um palästinensischen Bauern bei der Olivenernte zu helfen. Die Präsenz der Gäste aus dem Ausland ermöglicht den Bauern, zu ihren Felder zu gelangen, die aufgrund ihrer Nähe zur Mauer, zu einer Siedlung oder aufgrund eines militärischen Beschlusses ausser Reichweite der Besitzer gekommen sind. Wir haben kaum die ersten Bäume abgeerntet, da bringt die Familie schon den ersten arabischen Kaffee und eine kleine Stärkung. Wo auch immer wir hinkommen, unsere GastgeberInnen sorgen sich ausserordentlich gut um unser Wohl. „Warum steht auf der Packliste nicht, dass man für die zweite Hälfte der Reise grössere Kleider mitbringen soll?“, beklagt sich eine Teilnehmerin im Scherz.
Rundgänge und Zugänge in heiligen Gassen und Hügeln
Am zweiten und dritten Tag ist mit Rundgängen zu Fuss in der Altstadt von Hebron und Jerusalem für neue Abwechslung gesorgt. In beiden Städten führen uns Einheimische durch die Gassen. In Jerusalem überrascht es uns, wie auf so kleinem Raum soviel Leben herrscht. Die bunten Märkte an den Hauptachsen lassen die TouristInnen verlangsamen. Sie sind hierher gekommen, um die jahrhundertealten Kirchen, Synagogen, Moscheen und römische Ruinen zu besuchen. Die BewohnerInnen der Altstadt bahnen sich gekonnt ihren Weg durch die Massen, die meisten gehen der Arbeit nach, zu Gebetszeiten drängen viele auch zur Moschee, in die Synagoge oder in die Kirche. Jerusalem hat eine unglaubliche Anziehungskraft, weil es soviel in einem vereint. Auf den ersten Blick wirkt die Stadt irgendwie harmonisch. Doch auf unserer Tour durch die Aussenquartiere in Ostjerusalem mit dem israelischen Komitee gegen Hausabbrüche wird klar, dass auch hier die israelische Besatzung und die illegalen Siedlungen allgegenwärtig sind. Zwar ist die Situation noch besser als in Hebron, das durch die Errichtung unzähliger Checkpoints und die Sperrung von ganzen Strassenzügen zu einem gespenstischen Labyrinth geworden. Aber unsere Begleiterin erklärt uns, dass auch Jerusalem eine ähnliche Zukunft bevorsteht. Schon wurden einige Strassenabschnitte für PalästinenserInnen verboten. Man spricht von einer „Hebronisierung“ Jerusalems. Damit ist die Aufteilung der Stadt in verschiedene Zonen gemeint, von denen einige ausschliesslich SiedlerInnen vorbehalten sind.
Was für uns in der Schweiz ganz selbstverständlich ist, ist in den letzten 15 Jahren zur Hauptschwierigkeit in Palästina geworden: Der Zugang zu Örtlichkeiten, die ausserhalb der unmittelbaren Wohnumgebung liegen, und das Zurücklegen des Weges von A nach B. Natürlich gibt es auch in der Schweiz durchaus Orte, an die man nicht so einfach hinspazieren kann: eine Industriezone, Sperrgebiet rund um einen Flughafen, privates Land an einem Seeufer. Doch in Palästina ist die Frage vielmehr, wo der einzelne überhaupt noch Zutritt hat, und dies kann sich von Tag zu Tag ändern. Jeglicher Zugang kann willkürlich verwehrt werden: Der Zugang zu Jerusalem, der Zugang vom Dorf in die nächst grössere Stadt, zum Arzt, der Zugang zum eigenen Landbesitz, der auf der „falschen“ Seite einer fremdbestimmten Grenzlinie liegt.
In dieser Woche beobachten wir oft, dass Grenzen allgegenwärtig sind. Damit die Bauern die Absperrungen überwinden können, die zwischen ihnen und ihrem Land liegen, sind wir da und markieren Präsenz. Manches Hindernis ist unsichtbar. So begleiten wir bei einem Ernteeinsatz eine Familie zu ihrem Land, das heute direkt neben einem Siedlungsaussenposten liegt und somit zum Vorgarten der SiedlerInnen geworden ist. Ohne Begleitung kann der Bauer sein Land nicht mehr erreichen. Auch Ayman, der Landbesitzer der Olivenhaine, in denen wir am letzten Tag Oliven pflücken, lebt hinter einer solchen Grenze, diesmal sichtbar: Er hat den Schlüssel zu seinem eigenen Gefängnis. Sein Land wurde von der israelischen Armee zur „Geschlossenen Militärzone“ deklariert, und er muss das grosse Tor mit Stacheldraht hinter sich abschliessen, damit auch ja kein anderer Palästinenser ihn besuchen oder ihm zum Beispiel bei der Ernte helfen kann. Oben auf dem Hügel thront stolz die grosse Siedlung Gilo, die in Israel meistens einfach als Aussenquartier Jerusalems wahrgenommen wird.
Hoffnung am Leben erhalten
Das Programm ist vielfältig, und wir haben neben den Begegnungen mit den Bauern und dem Pflücken auch die Möglichkeit, das Land zu entdecken und werden mit kurzen Vorträgen oder Führungen in Themen eingeführt. Wir sind in Gastfamilien untergebracht und nutzen die Abende, um von unsern Gastgeberinnen und Gastgebern mehr über ihren Alltag zu erfahren. Und natürlich fehlen auch die Feierlichkeiten nie in Palästina! Am letzten Abend wird eine lokale Musikgruppe zu einem Konzert mit anschliessendem Grillfest eingeladen. Wir sind müde von den vielen Stunden in den Olivenhainen und den neuen Eindrücken, aber es wird viel gelacht, gesungen und getanzt und Adressen werden ausgetauscht. Während wir schon bald abreisen müssen, bleiben unsere GastgeberInnen in dieser schwierigen Situation zurück. Jetzt wird uns plötzlich bewusst, wie wichtig unser Einsatz bei der Ernte war. Auch wenn es uns nur wie ein Tropfen auf dem heissen Stein erscheint und wir in zehn Tagen nicht viel mehr als ein paar Kilo Oliven pro Person ernten konnten, so ist doch jeder Besuch ausländischer Menschen ausserordentlich wichtig und hat für die palästinensische Bevölkerung vor Ort eine grosse Bedeutung. Vor allem für die Familien, die täglich um ihr Land bangen und nicht wissen, ob sie nächstes Jahr ihre Oliven werden ernten können, geben solche Besuche Hoffnung. Und Hoffnung ist das Lebenselixier im Nahen Osten!
* wörtlich übersetzt „Ibrahims Mutter“, wobei immer der Name des ältesten Sohns genannt wird; dies ist eine respektvolle Anrede für Erwachsene.
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Das Olivenernte-Programm
Die Alternative Tourism Group (ATG) und die Joint Advocacy Initiative (JAI) des CVJM (Christlicher Verein junger Männer) in Ostjerusalem und der Palästina-Sektion des CVFM (Christlicher Verein junger Frauen) organisieren schon seit mehreren Jahren ein Programm für Freiwillige, die als Individualreisende Palästina kennen lernen und gleichzeitig bei der Olivenernte mithelfen möchten. Seit dem Jahr 2000 ist in gewissen Gebieten die Präsenz internationaler HelferInnen bei der Olivenernte nötig geworden, da die Bauern alleine gar keinen Zugang mehr zu ihren Feldern haben. Die ausländischen Besucherinnen und Besucher begleiten die Bauern zu den Feldern, die sich in der Nähe von Siedlungen, Siedlungsaussenposten, Armeestrassen oder der Mauer befinden und somit sehr exponiert sind. Dort helfen die vielen zusätzlichen Hände mit, so viele Oliven wie möglich zu ernten.
Das Programm bietet neben den Ernteeinsätzen auch Einführungen zur aktuellen Situation in Palästina, insbesondere zu den Auswirkungen des Mauerbaus und der israelischen Siedlungspolitik. Ebenso gehören Sightseeing-Touren in Jerusalem, Hebron und Bethlehem sowie ein Abschluss mit kulturellem Programm dazu. Die Gäste können wählen, ob sie bei einheimischen Familien oder im Hotel wohnen wollen. Seit Februar 2008 bieten die beiden Organisationen auch ein ähnliches Programm im Spätwinter an. Dann werden junge Olivenbäume gepflanzt, um das Land besser vor Enteignung durch Siedler oder den israelischen Staat zu schützen.
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Bilder: Von Regula Kaufmann zur Verfügung gestellt