Das Dorf Jayyous liegt auf einem Hügel am westlichen Rand des Westjordanlandes. Die Ackerflächen des Dorfes reichen bis in die Tiefebene, bis an die "Grüne Linie", die Grenze zu Israel. Doch durch das schon fast idyllisch anmutende Landschaftbild schlängelt sich der israelische Sperrzaun, der die Olivenhaine in zwei Hälften teilt. Nur an zwei Stellen erlauben von israelischen Soldaten bewachte Tore, auf die andere Seite des Zaunes zu gelangen.
Vor dem Nordtor wartet Bauer Sharif Omar. Sein Traktor ist beladen mit Kartonschachteln und Wasserkanistern. "Ich züchte Orangen, Zitronen, Oliven und Feigen", erklärt er. "Alle meine Haine liegen auf der anderen Seite der Sperranlage." Nur wenn die israelischen Soldaten ihm heute das Tor öffnen, wird er sich um seine Bäume kümmern können.
Das Dorf Jayyous zählt circa 4’000 Einwohner, die mehrheitlich von der Landwirtschaft leben. Durch den Bau der israelischen Sperranlage im Jahr 2002 – gemäss Israel eine Sicherheitsmassnahme – wurden rund 75 Prozent der Ackerflächen des Dorfes abgetrennt und liegen jetzt hinter dem Zaun, in israelischem Sperrgebiet. Die Bäuerinnen und Bauern können ihre Felder nur noch mit israelischen Passierscheinen erreichen. Die beiden Tore werden dreimal täglich für eine halbe Stunde geöffnet. Manchmal bleiben sie aufgrund militärischer Order für Tage geschlossen. "Früher arbeiteten wir nach einem von der Saison, der Sonne und dem Regen bestimmten Zeitplan", erzählt Sharif. "Das ist jetzt vorbei." Zudem stellen die israelischen Behörden nur etwa 18 Prozent der Jayyousis einen Passagierschein aus, oft nur einer Person pro Familie. Dies hat zur Folge, dass viele Dorfbewohner zu Untätigkeit gezwungen sind, während es auf den Feldern an Arbeitskräften mangelt. Die Restriktionen liessen die landwirtschaftlichen Erträge in den letzten Jahren stark sinken. Viele Kleinbauernfamilien der ehemaligen Kornkammer des Westjordanlandes sind heute auf die Unterstützung durch soziale Einrichtungen angewiesen.
Im Jahr 2004 entschied der Internationale Gerichtshof in einem Gutachten, dass der israelische Sperrzaun, welcher zu 80 Prozent nicht entlang der Waffenstillstandslinie von 1949, sondern – wie in Jayyous – durch palästinensisches Autonomiegebiet verläuft, gegen internationales Recht verstösst. Der Gerichtshof verlangte den Abbruch der Sperranlage und die Entschädigung der PalästinenserInnen, welche von ihren Lebensgrundlagen abgeschnitten wurden.
HEKS ist verantwortlich für die Schweizer Beteiligung am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Internationale MenschenrechtsbeobachterInnen werden für jeweils drei Monate in Jayyous und anderen Einsatzorten im Westjordanland stationiert. Sie beobachten die Tore und Checkpoints und unterstützen die PalästinenserInnen in ihren landwirtschaftlichen Tätigkeiten sowie in administrativen Prozeduren, die zum Beispiel für die Ausstellung der Passierscheine nötig sind. Ziel von EAPPI ist es, durch proaktive internationale Präsenz an verschiedenen Standorten im Westjordanland auf die systematischen Verstösse gegen Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht in den besetzten Gebieten aufmerksam zu machen und diese – wo möglich – zu verhindern.
Auf den konfiszierten Landstrichen hinter dem Sperrzaun in Jayyous liegen nicht nur Olivenhaine, sondern auch die israelische Siedlung Zufin. Die Siedler nutzen enteignetes palästinensisches Land und die natürlichen Ressourcen ungehindert. Kein Einzelfall. Im landwirtschaftlich wichtigen Jordantal leben schätzungsweise 9’000 Israelis von den Land und Wasserressourcen der Region, welche von Israel als Besatzungsmacht kontrolliert werden. Während palästinensische Dörfer immer mehr auf dem Trockenen sitzen, fliesst ein Grossteil des Wassers in die Siedlungen, wo es zur Bewässerung grossflächiger Früchte- und Gemüseplantagen benötigt wird. Der Bau von Industrieanlagen auf besetztem Gebiet verstösst gegen das humanitäre Völkerrecht. Nicht selten kommt es jedoch vor, dass Produkte aus israelischen Siedlungen vermarktet und exportiert werden, auch in die Schweiz.
Sharif hat sich inzwischen an das tägliche Warten vor dem Tor gewöhnt. Resigniert aber hat er noch lange nicht: "Wir werden erst frei sein, wenn wir auf unsere Felder gehen können, wann wir wollen; wenn wir unsere Produkte verkaufen können, wo wir wollen; und wenn wir unsere Kinder jeden Morgen beim Aufwachen sicher neben uns finden."

Denkanstoss

Vertreter verschiedener christlicher Gemeinschaften in Palästina veröffentlichten im Dezember 2009 einen gemeinsamen Aufruf an die "Weltgemeinschaft und an die christlichen Brüder und Schwestern in den Kirchen in aller Welt". Im sogenannten "Kairos Palestine"-Dokument fordern sie die Beendigung der Besetzung ihres Landes und rufen alle Adressaten dazu auf, sich gegen Letztere zu stellen. Das Kairos-Dokument greift auch die Landproblematik auf: "Im Namen Gottes und im Namen von Macht stehlen israelische Siedlungen unser Land; sie kontrollieren unsere natürlichen Ressourcen, auch das Wasser und das Ackerland, und damit berauben sie Hunderttausende von PalästinenserInnen ihrer Rechte und stehen einer politischen Lösung im Wege."
Siedlungsaktivitäten, und damit auch der Bau von Industrieanlagen, in besetzten Gebieten verstossen gegen das humanitäre Völkerrecht. Obwohl der Bundesrat die israelischen Siedlungsaktivitäten wegen ihrer Völkerrechtswidrigkeit wiederholt verurteilt hat, wurde bisher nichts unternommen, um die Einfuhr von Produkten, die auf besetztem Gebiet hergestellt wurden, zu kontrollieren oder zu unterbinden. Bereits im Dezember 2009 berichtete die Sendung Kassensturz des Schweizer Fernsehens über Datteln, die in Siedlungen im besetzten Jordantal angebaut und schliesslich in die Schweiz exportiert und bei Grossverteilern zum Verkauf angeboten werden. Wenn Sie keine völkerrechtswidrigen Produkte aus den besetzten Gebieten auf dem Teller wollen, achten Sie beim Kauf von Datteln, Kartoffeln, Avocado oder Kräutern auf die Herkunftsangaben und fragen Sie im Geschäft nach, woher genau die Produkte stammen.