Operation «Gegossenes Blei» in Gaza: Wie wird die Zukunft gelesen?
Am 27. Dezember 08 gingen die ersten Bomben der israelischen Luftwaffe unter dem Operationscode "Gegossenes Blei" in Gaza nieder. Als vordergründige Motivation für die Intervention der israelischen Armee im Gazastreifen, die in einen heftigen Kurzkrieg mündete, wurde die Zerstörung der Hamas-Infrastruktur und folglich ein Ausschalten der regelmässigen Beschiessung israelischen Territoriums durch Qassam-Rakten aus dem nördlichen Gaza angegeben. An diesem ersten Tag warfen 60 Kampfflugzeuge und Helikopter über 100 Tonnen Bomben über Gaza ab, das Ereignis wird deshalb auch als "Massaker des Schwarzen Samstag" bezeichnet. Laut palästinensischen Angaben verloren dabei 270 Menschen ihr Leben und 700 Verletzte suchten Hilfe in den Spitälern. Nach Waffenstillstandserklärungen Israels und der Hamas am 18. Januar 09 verliessen die israelischen Truppen den Gazastreifen, die Regierung zog aber gleichzeitig die Belagerungs-Schraube noch um ein paar Drehungen an.
Operationscode mit Symbolgehalt
Ein militärischer Operationscode wird so formuliert, dass er als spezifischer, nur für eine bestimmte kriegerische Aktion gültiger Oberbegriff Verwendung findet. Jedoch soll ein solcher Begriff seinem (nicht offengelegten) Sinn nach verschiedene Assoziationen hervorrufen und wird damit zu einem wichtigen Teil der Kriegsrhetorik und –propaganda.
Der Codename "Gegossenes Blei" hat eine bemerkenswerte Geschichte. Der Gazakrieg fand während des jährlich wiederkehrenden jüdischen Chanukka-Festes statt. Chanukka (dt. Einweihung) ist das Lichtfest zur Erinnerung an die Einweihung des zweiten Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v.u.Z. nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand der Juden Judäas gegen hellenisierte Juden und makedonische Syrer. "Gegossenes Blei" (hebr. oferet yetzuka) erinnert an ein Kinderlied, das typischerweise während des Chanukka-Festes gesungen wird. Das Lied handelt von einem in Blei gegossenen Kreisel, mit dem die Kinder an Chanukka spielen und auf dem vier hebräische Buchstaben eingraviert sind. Diese versinnbildlichen den Siegesspruch "Hier hat ein grosses Wunder stattgefunden".
Wenn Bleigiessen mit Blick auf den Gazakrieg als althergebrachter, bei uns praktizierter Silvesterbrauch verstanden wird, aus dem die Menschen ihre Zukunft für das neu beginnende Jahr herauslesen, dann steht das "Gegossene Blei" als zukunftsweisendes Symbol am Jahresübergang und das "grosse Wunder’" verwandelt sich in eine geradezu trostlose Realität. Diese hat das Jahr 2009 für den Grossteil der PalästinenserInnen in Gaza bestimmt und ihre Auswirkungen nicht verfehlt.
Grosse Einschränkungen seit dem Gaza-Krieg
Zwei der bedrohlichen Konsequenzen des Kriegs, die sich von der isolationistischen Israel-Politik Palästina gegenüber herleiten lassen, bestimmen seither den Alltag der BewohnerInnen des schmalen, eingeschlossenen Küstenstreifens.
Nachdem sich die Armee vor einem Jahr aus Gaza zurückzog, schränkten die israelischen Behörden die Einfuhr sämtlicher materiellen Güter von Israel nach Gaza ein. Aus der Liste der bisher gegen 2’000 Alltagsgegenstände, Lebensmittel, Medikamente etc. wurden ungefähr 1’970 gestrichen, und von den wenigen Esswaren, die noch auf der Liste fungieren, wird die Einfuhr so reduziert, dass es zwar zu keiner Aushungerung, aber gut und gerne zu chronischer Mangelernährung der Bevölkerung kommt. Weil keine Baumaterialien nach Gaza zugelassen sind, leben die Menschen entweder in ihren zerschossenen Häusern oder in Zelten weiter, können die Wasseraufbereitungsanlagen nicht repariert werden, fehlt es an Kochgas, Kinderkleidung, Heizmaterial und vielem anderen. Konsequenterweise kam es zu einem Ausbau der Tunnels zwischen Gaza und Ägypten auf ca. 1’500 funktionierende Durchgänge, durch die von Alltagsgütern über Tiere bis zu Waffen und Benzin alles Eingang findet. Heute ist Gaza abhängig von einer Tunnel- und Kriegsökonomie, die einige wenige Personen sehr reich werden lässt, während der Grossteil der Bevölkerung verarmt. Ein Aspekt, der zu diesem Zustand beiträgt, wird dabei leider gerne unterschlagen. Der Streit zwischen der Hamas und der palästinensischen Regierung der Fatah verleitet die Funktionäre in Ramallah (Westbank), durch indirekte Kontrolle die BewohnerInnen Gazas gegen die Hamas aufzustacheln. Dies tun sie, indem sie die Quasi-Embargopolitik Israels unterstützen oder zumindest nicht aktiv zu verhindern suchen. Wie verraten sich dabei die PalästinenserInnen von ihrer Regierung fühlen, bleibe dahingestellt – mit Sicherheit wird damit aber keine starke und konstruktive politische Zukunftsperspektive gefördert.
Permanente Angstgefühle
Die zweite Konsequenz betrifft das Befinden der Frauen, Männer und Kinder in gleichem Masse. Die physische Abriegelung des Gazastreifens liess seinen BewohnerInnen keine Chance, vor den militärischen Angriffen zu fliehen oder sich in anderer Weise zu schützen. Oft konnten weder Leichen noch Verletzte abtransportiert werden, es herrschte Wassermangel und die Elektrizität war nicht in Betrieb. Zu den Attacken der israelischen Armee gesellten sich interne, mit Waffengewalt ausgetragene Racheaktionen zerstrittener Clans und Parteien, die unter dem "Schutzmantel" des Krieges ausgeführt wurden und viele Familien gegeneinander aufbrachten. Besonders Kinder erlitten unter dieser vergifteten und traumatisierenden Dunkelheit und Isolation seelische Wunden, von denen sie sich nur sehr schwer erholen. Auch ein Jahr nach dem Krieg bestätigen die PalästinenserInnen, dass ein jederzeit möglicher Angriff aus der Luft, vor dem sie sich nicht in Sicherheit bringen können, bei ihnen ein permanentes Angstgefühl auslöse. Die seelische Not und die Antriebslosigkeit, der fehlende Kontakt zur Aussenwelt und die Angst vor einer absolut leeren und ungewissen Zukunft bestimmen nun den Alltag der Menschen. Generationen von Jugendlichen und Kindern stehen vor dem Nichts, verstört von einer einzigen Gewissheit: dass Gewalt auch ihre Zukunft bestimmen wird.
Wenn das kein "Gegossenes Blei" ist!
Bern, 13. Dezember 09, Esther Stebler, cfd, Programmverantwortliche Palästina/Israel.
Der cfd entwickelt aus feministischer Perspektive Grundlagen für die Gewaltprävention, die Friedensförderung, und die zivile Konfliktbearbeitung. Dabei berücksichtigt er die verschiedenen Formen von Gewalt und Ausgrenzung in Kriegs- und Friedenszeiten und verleiht den Sicherheitsinteressen von Frauen Sichtbarkeit und Gewicht.
Bildkommentare des Fotografen, von oben nach unten:
1) Dieses Bild wurde am 21. Januar 2008 aufgenommen, nach einer Attacke auf das Shabora Flüchtlingslager in Rafah, nahe dem Stadtzentrum. Dieses zivile Quartier (eines der am dichtesten bevölkerten im Gaza-Streifen) wurde in einem israelischen Luftangriff kurz vor Mitternacht getroffen. Die Rakete schlug ohne Vorwarnung in einen kleinen Park ein und zerstörte eine Vielzahl umliegender Häuser und Ladenlokale.
Eine 33jährige Frau und ein 22jähriger Mann wurden getötet und fast 60 Personen verletzt, darunter 18 Frauen und 16 Kinder. Verschiedene ältere Personen waren unter den Verletzen und Schwerverletzten.
Ich habe den Angriff von Hi Alijnina in hundert Meter Entfernung beobachtet. Ein F-16 Kampfjet war zu hören kurz vor der massiven Explosion. Die Mauer unseres Hauses in Richtung des Angriffs bebte und es schien als würden die Fenster platzen. Die Sirenen verschiedener Ambulanzen waren noch lange danach zu hören.
2) Kurz vor Mitternacht gestern regneten Raketen auf Rafah nieder in einem der schwersten Israelischen Luftangriffe seit das aktuelle Desaster begann. Andauernde Luftattacken über dem südlichen Gaza dröhnten über 12 Stunden lang. Viele häuser wurden zerstört oder schwer beschädigt, insbesondere im Quartier an der Grenze zu Ägypten
Die Bewohner meldeten, dass heute Nachmittag aus den Flugzeugen Flugblätter abgeworfen wurden. In den Faltblättern wurden sie aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen, in einem Gebiet von der Grenze bis zur Seestrasse, der Hauptstrasse die durch das Herz von Rafah führt, parallel zur Grenze. Dieses Gebiet ist hunderte von Metern breit und Standort von tausenden von Häusern. Der grösste Teil dieses Gebiets sind Flüchtlingslager, deren Bewohner erneut zu Flüchtlingen gemacht werden, einige zum dritten oder vierten mal nach den Massenzerstörungen 2003 und 2004 durch die D-9 Bulldozer des israelischen Militärs.
Ein dreistündiges Feuergefecht wurden in den lokalen Medien angekündigt und die Bewohner sahen dies als letzte Möglichkeit, einige ihrer Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen, ungeachtet der F-16, die zu der Zeit über Rafah kreisten. Es gab Szenen von Leuten, die in den Ruinen wühlten, Kinder, die Bündel trugen, Eselskarren beladen mit Bettzeug und Lastwagen mit Möbeln. Wo sollen diese Familien hin? Nach dem gestrigen Massaker in Jabaliya haben sie haben Angst, in den örtlichen UNRWA-Schulen Unterschlupf zu suchen. Die werden momentan vom Rest der Bevölkerung aufgenommen, Freunden, Nachbarn, Verwandten. Wir haben einen Freund in Yibna, direkt an der Grenze, der sich weigert, sein Heim zu verlassen. Wir sprachen mit einer Frau un Al Barazil, die eine zwölfköpfige Familie hat und schlicht nicht weiss, wo sie hin soll, und eine Frau in Block J, die buchstäblich auf der Strasse ist heute Nacht. Ihr Vater ist über neunzig Jahre alt.
3)Beit Lahiya ganz im Norden des Gazastreifens wurde in den israelischen Angriffen schwer getroffen. Das Bild zeigt das Wohnquartier nach dem Angriff.