Orhan Pamuk: Schnee
(Kar, 2002. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann)
Carl Hanser Verlag, München 2005
512 S., EUR 25.90; SFr 46.20
ISBN: 3-446-20574-8
Ka, der eigentlich Kerim Alakuşoğlu heisst, sitzt im Bus. Die ersten Flocken Schnee (türkisch Kar) fallen bereits auf der Fahrt nach Kars, einer Stadt im Nordosten von Anatolien. Ka, der während zwölf Jahren in Deutschland gelebt hatte, war anlässlich des Todes seiner Mutter nach Istanbul zurückgekehrt. Aber obschon er selber das europäische Leben schätzen gelernt hatte, war ihm Istanbul zu westlich geworden. Deshalb übernahm er gerne den Auftrag eines befreundeten Zeitungsredaktors, in das abgelegene Kars zu reisen, um eine Reportage über die bevorstehenden Wahlen in der Stadt zu schreiben. Ausserdem hatten sich sieben Mädchen das Leben genommen. Sie waren gezwungen worden, das Kopftuch abzulegen. Was steckt da alles noch dahinter? Ka verfolgt mit seiner Fahrt in die Provinz aber auch persönliche Interessen. Er sucht das ursprüngliche Leben in der Türkei seiner Kindheit. Und er hofft, die schöne Ipek, eine Freundin aus seiner Studienzeit, wieder zu sehen und sich erneut in sie verlieben zu können, jetzt, wo sie sich eben von ihrem Mann getrennt hat.
Ka begegnet in Kars den verschiedensten Leuten: Islamisten, Vertretern des säkularen Staates, ehemaligen Kommunisten, Atheisten, Kurden, Militärs, Geheimdienstlern, Parteifunktionären, Spitzeln, Schülern einer Vorbeter- und Predigerschule. Während der ganzen Zeit fällt Schnee, der alles zudeckt und die Stadt von der Umwelt abschneidet. So wird Kars zu einer Miniatur der türkischen Gesellschaft. Ka sitzt in der Stadt fest und gerät immer mehr in die Intrigen, Auseinandersetzungen und Kämpfe der vielfältig gemischten Bevölkerung. Anlässlich einer Theateraufführung kommt es zum Putsch. Zudem findet Ka seine alte Liebe Ipek und erlebt zusammen mit ihr einen wahren Glücksrausch. Auch gelingt es ihm, fast wie von selbst wunderbare Gedichte zu schreiben. Doch das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Er wird von verschiedenen Seiten als Spitzel eingesetzt und schlussendlich abgeschoben, als der Schnee schmilzt und die Verkehrswege wieder offen sind. Vier Jahre später wird er in Frankfurt umgebracht, weil er den Militärs einen islamistischen Führer verraten haben soll. Seine neunzehn in Kars geschrieben Gedichte bleiben verschwunden.
Der Roman ist fesselnd und verwirrend zugleich. Am Schluss des Buches wird der geneigte Leser gewarnt, nicht alles zu glauben, was da geschrieben steht. „Keiner kann uns aus der Ferne verstehen.“ Dennoch hilft Pamuk, dem aus europäischer Sicht immer fremd bleibenden Phänomen Türkei etwas näher zu kommen, indem er etwas von der Vielfalt und den einander entgegen wirkenden Kräften in der türkischen Gesellschaft und Politik zeigt. Mutig greift der Autor die auch in westlichen Staaten heikle Frage des Kopftuches auf. Nicht alle Passagen des etwas langen Romans sind leicht zu lesen. Die vielen Gespräche und politischen Auseinandersetzungen und das ständige Schneetreiben sind manchmal ermüdend. Aber da wird auch eine Geschichte von Menschen erzählt, die Liebe und Glück suchen – und manchmal auch finden. Wie aktuell dieses Buch von Orhan Pamuk ist, wird auch an der schwierigen Situation deutlich, in der Pamuk zurzeit in der Türkei lebt.
Michael Schwarz
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