Florian Eggli ist Dozent am Institut für Tourismus und Mobilität an der Hochschule Luzern. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit dem Overtourismus in Luzern und suchte nach Lösungsansätzen, welche zu einem harmonischeren Miteinander zwischen Lokalbevölkerung und Tourist*innen führen könnten. Dabei vertritt er zwei Thesen: Erstens greife es zu kurz, den Overtourismus als rein numerisches Problem zu betrachten – denn genauso sei es eines des Verhaltens und der Wahrnehmung. Und zweitens müsse man den Tourismus als Teil der Identität einer Destination verstehen und nicht als Fremdkörper.

Matteo Baldi: In der Debatte um Overtourismus wirkt es häufig so, als wäre der Tourismus etwas, das von aussen kommt und über eine Stadt herfällt. Du machst dich stark für ein anderes Verständnis von Tourismus in Luzern. Wie sieht das aus?

Florian Eggli: Luzern ist zwar ein besonderer Ort, da es eine über 200-jährige Tourismus-Geschichte hat. Aber bei moderneren Destinationen wie Benidorm oder Dubai ist es nicht wirklich anders: Nämlich, dass der Tourismus Teil der Identität dieser Städte ist.

MB: Was verändert sich, wenn der Tourismus nicht als Fremdkörper betrachtet wird, sondern als Teil einer Destinations-Identität?

FE: Dann kann man den Tourismus als Chance verstehen und seine positiven Aspekte verstärken, indem man diese erkenn- und erlebbar macht. Natürlich darf man dabei nicht den kritischen Blick auf problematische Aspekte verlieren, denn die gibt es auch.

MB: Was sind die positiven Aspekte – nebst den wirtschaftlichen Kennzahlen, mit denen die Tourismuswirtschaft häufig argumentiert und vielen vom Overtourismus Betroffenen auf der Welt nicht mehr genügt?
FE: Der Lebensraum der Lokalbevölkerung ist eng verwoben mit dem touristischen Erlebnisraum. Beispielsweise können die Kursschiffe auf dem Vierwaldstättersee nur wegen der Tourist*innen so häufig fahren. Davon profitieren die Anwohner*innen, wenn sie die Schiffe in der Freizeit – alleine oder mit Gästen – benutzen.

MB: Ein so verwobener Raum ist auch das Luzerner Seequai. Da offenbart sich immer wieder Konfliktpotential.

FE: In meiner Dissertation gehe ich auf diverse Zwischenfälle ein, eines davon ist beispielsweise das hartnäckige Stereotyp über chinesische Tourist*innen, dass sie die Ampeln bei den Fussgängerstreifen nicht respektieren. Dabei liegt das eher an den zu kurzen Grünphasen, welche es den grossen Reisegruppen erschwert, geschlossen die Strasse zu überqueren. Ein anderes Beispiel, das weite Wogen geschlag hat, betrifft den Umgang mit einem Schwan: Chinesische Tourist*innen hielten einem Schwan eine Banknote hin und als dieser sie sich dann packt, greift eine Frau aus der Gruppe nach dem Hals des Schwans, bzw. würgt ihn, und versucht ihm das Geld wieder zu entreissen. Das Ganze wurde wiederum von amerikanischen Tourist*innen gefilmt und auf Social Media veröffentlicht. Das hat hohe Wellen geschlagen. Es ist klar, dass das mit den hiesigen Vorstellungen von Tierschutz überhaupt nicht vereinbar ist. Aber da sieht man, dass es einzelne Umgänge sind, die zu Verwerfungen mit ganzen Gruppen führen können.

MB: Ich habe über den Fall recherchiert und den Eindruck gewonnen, dass asiatische Medien den Vorfall eher als individuelles Fehlverhalten gedeutet haben, während westliche Medien tendenziell kulturelle Motive darin erkennen.

FE: Das gibt es umgekehrt genau gleich: Wenn sich beispielweise in Pattaya ein Schweizer im Rausch danebenbenimmt, schliessen wir ja auch nicht auf unsere Kultur. Einige chinesische Medien haben sich dafür entschuldigt und darauf aufmerksam gemacht, dass diese Personen nicht das moderne China repräsentieren würden.

MB: Interessant an deiner Arbeit ist auch, dass Du die Perspektiven wechselst: Asiatische Tourist*innen selbst haben ebenfalls ein Selbstverständnis von ihren Rollen als Tourist*innen.

FE: Auch hier kennen wir das Phänomen von uns: Manchmal will man sich nicht als Tourist*in zu erkennen geben. Beispielsweise, wenn man einen Ort schon mehrmals besucht hat. Im Rahmen meiner Feldforschung habe ich mit einer Dame gesprochen, die bewusst keine Kamera bei sich trug, um nicht als asiatische Gruppentouristin durchzugehen. Solche Codes und Distinktionsmerkmale sind extrem wichtig, wenn man sich im öffentlichen Raum bewegt – einerseits fürs eigene Selbstverständnis, andererseits wie man gelesen wird. Und schliesslich: Als wie störend der Tourismus wahrgenommen wird.

MB: Beim Overtourismus spielt also nicht allein die Menge der Menschen eine Rolle, sondern auch, wie stark die Distinktionsmerkmale ausgeprägt sind?

FE: Genau, es geht nicht allein um die Anzahl Reisender, sondern auch um die Anzahl Leute, die diese Codes richtig oder falsch verstehen. Wenn beispielsweise zehn Leute die hiesigen Codes nicht verstehen, dann werden die als weitaus problematischer wahrgenommen als dreissig Menschen, die die Codes kennen und verstehen.

MB: “Zu viel” ist also relativ?

FE: In der Overtourismus-Debatte versucht man häufig eine Carrying Capacity – also eine maximale Tragfähigkeit – zu erfassen und die wird numerisch festgelegt: Einwohner*innen und Tourist*innen werden in ein Verhältnis gestellt. Das ergibt dann Zahlen, die sich mit entsprechender Technik gut messen lassen. Das greift meiner Meinung nach zu kurz.

MB: Also macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob 1000 Leute kommen oder 10 – sofern sich alle den lokalen Gepflogenheiten entsprechend verhalten?

FE: Das macht natürlich einen Unterschied. Aber zusätzlich zur quantitativen Messung braucht es ergänzend eine qualitative Betrachtung von den Menschen, die sich an einem Ort befinden und bewegen.

MB: Als das Luzerner Kunstmuseum 2019 eine Turner Ausstellung machte, waren plötzlich alle wieder stolz aufs touristische Erbe Luzerns. Das kontrastiert arg mit dem, wie in Luzern heute – besonders in eher linken Kreisen – über Tourismus nachgedacht wird.

FE: Luzern war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Prime Destination; jetzt ist es quasi das Umgekehrte: «Heute gibt’s Ramschtourismus, jetzt kommen die aus China mit ihren Bussen!» Da ist man in Luzern ein wenig beleidigt.

MB: Was macht den Unterschied aus?

FE: Die Zeit ist ein Schlüsselfaktor. Menschen zu Zeiten Turners konnten drei Monate Urlaub machen. Qualitätstourismus, der Begegnungen ermöglicht und es einem erlaubt, sich auf den Ort einzulassen, braucht auch heute noch Zeit. Das ist nicht möglich, wenn man innerhalb weniger Tage Europa bereist.

MB: Natürlich reisen nicht alle so.

FE: Viele Einzeltourist*innen grenzen sich bewusst von den Gruppentourist*innen ab. Zwei Familien aus Shanghai, mit denen ich gesprochen habe, entschuldigten sich beispielweise dafür, dass sie asiatische Nudelsuppen gekauft haben. Es war ihnen wichtig mitzuteilen, dass die nur für die Kinder seien und sie selbst natürlich etwas Lokales essen würden. Es gibt also auch so etwas wie einen Rechtfertigungsdruck, wenn man die gängigen Codes einer Destination kennt und diese nicht immer befolgen kann.

MB: Man regt sich in Luzern über Instantsuppe auf?

FE: Man kann der Meinung sein, dass es sich hierbei um eine Anbiederung eines Ur- Schweizer-Unternehmens Migros an die Tourist*innen handelt. Oder aber sagen: «Toll, dass wir hier ein so breites Angebot an solchen super Suppen haben!» Ähnlich verhält es sich übrigens mit den Schweinefüssen, die es in der Hertenstein Migros zwischenzeitlich als Snack gab.

MB: Und wenn einem Suppen und Schweinefüsse nichts sagen?

FE: Es gibt viele weitere Beispiele. Man kann hier beispielsweise ein ausgezeichnetes indisches Restaurant besuchen und mit hundert indischen Menschen zu Abend essen. Dann fühle ich mich wie in den Ferien. Die Gäste koproduzieren eine Stimmung allein durch ihre Anwesenheit und ihre individuellen Praktiken. Und das darf man ruhig als Mehrwert betrachten.

MB: Hat eine Destination wie Luzern überhaupt Möglichkeiten, ein anderes Klima zu schaffen, damit die von dir geäusserten Aspekte des Tourismus mehr in Erscheinung treten?

FE: Was langfristig nicht geht, ist die Lokalbevölkerung mit den üblichen Argumenten von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen gefügig zu machen. Damit kann man keine Herzen gewinnen. Eine Destination muss zu einer Balance finden mit Angeboten, die anspruchsvolle Tourist*innen gleichermassen anspricht wie die Lokalbevölkerung.

MB: Wie kann eine Destination das steuern?

FE: Man kann keinem Billiganbieter, der auf Kurzbesucher*innen in Reisebussen abzielt, das Geschäften verbieten. Aber wenn man Tourist*innen über bewusstes Marketing anwirbt, dann lassen sich Anreize für andere Angebote schaffen, die auch ins Luzerner Beuteschema passen – wie beispielsweise anspruchsvolle indische Restaurants. Luzern Tourismus schlägt diesen Weg ein und will mit der neuen Vision Tourismus 2030 keine Gruppen mehr anwerben.

MB: Und deswegen kommen keine Gruppentouristen mehr?

FE: Die anderen können natürlich trotzdem kommen, Gruppen werden ja nicht verboten. Aber es sollen keine zusätzlichen Anreize mehr geschaffen werden. Ob die neue Tourismusstrategie Früchte trägt, ist aber offen. Denn die Partikularinteressen sind gross und die Einflussmöglichkeiten aus Politik und Verwaltung gering.

Florian Eggli

Florian Eggli

Florian Eggli ist Tourismusforscher und -berater. Er doziert an der Fachhochschule Luzern und ist dort Leiter des MsC BA Major International Tourism Management. Zuvor doktorierte er an der Universität Lausanne und arbeitete in Customer Experience und Koordinator Cooperate Branding und Marketing der Kuoni Travel Group.