Neue palästinensische Tourismusinitiativen und Tourismusministerin Khouloud Daibes wollen Palästina auf die touristische Landkarte zurückbringen. Die von Sicherheitsmauern eingekreiste Bevölkerung möchte liebend gerne wieder mehr Gäste empfangen. Tourismus als Einkommensmöglichkeit? Als Ausweg aus der Isolation? Vielleicht gar als Wegbereiter für den Frieden?
Basel, 27.11.2008, akte/ „Wir bringen Palästina zurück auf die touristische Landkarte“, meint die palästinensische Tourismusministerin Khouloud Daibes voller Elan nach gut einem Jahr im Amt. Ihre Hoffnungen sind berechtigt: Die Hotelübernachtungen in Palästina haben sich im vergangenen Jahr verdoppelt auf rund 316’000. Über Weihnachten 2007 zog allein Bethlehem 60’000 BesucherInnen an, drei Mal mehr als noch vor Jahresfrist.
Bewegungsfreiheit
Vergangenen Mai zeigte Khouloud Daibes als GastgeberIn einer hochkarätig besetzten Investorenkonferenz in Bethlehem, was möglich ist, wenn die Israelis PalästinabesucherInnen Bewegungsfreiheit gewähren: Über 1’000 finanzkräftige Investoren aus der ganzen Welt – doppelt so viele wie erwartet – kamen zur Konferenz nach Palästina und sassen mit palästinensischen Regierungsverantwortlichen und Unternehmern zusammen. Mehr als 1,4 Milliarden US Dollar an Investitionen wurden sofort für die Erstellung von dringend benötigten Infrastrukturen und die Unterstützung der Privatwirtschaft in den palästinensischen Gebieten gesprochen, weitere 2 Milliarden in Aussicht gestellt – insgesamt weit mehr als auf sogenannten Nahostkonferenzen in der Regel Palästina von Geberländern versprochen wird.
Gleichzeitig erlebten die von der neun Meter hohen Betonmauer eng eingekreisten 30’000 BewohnerInnen von Bethlehem, wie die Reiseerleichterungen, die den Teilnehmenden zur Investorenkonferenz ausnahmsweise zugestandenen wurden, plötzlich ermöglichten, die paar wenigen Kilometer zwischen Jerusalem und Bethlehem ganz einfach zu überwinden. Davon können sie in ihrem Alltag nur träumen.
Israel hat zur Abriegelung der palästinensischen Gebiete über 75 militärisch besetzte Checkpoints und mehrere hundert weitere, oft mobile Kontrollsperren eingerichtet. Der Bau der riesigen – notabene völkerrechtswidrigen – Betonmauer schreitet, stets ganz nahe an die palästinensischen Siedlungen gelegt, voran und schneidet immer mehr PalästinenserInnen von ihren Gärten und Olivenhainen ab. Währenddessen haben sich bald 500’000 israelischen SiedlerInnen, von Steueranreizen angelockt, auf palästinensischem Gebiet niedergelassen, und geniessen freie Fahrt auf ihren neuen Schnellstrassen, die nun auch noch die Äcker der palästinensischen Bauern durchqueren, von letzteren aber nicht genutzt werden dürfen. Die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland, in Gaza und in Ost-Jerusalem ist durch eine schier unüberblickbare Anzahl an Vorschriften der Israelis in ihrer Bewegungsfreiheit im Alltag – auch ohne aussergewöhnliche Notstandsverordnungen bei politischen Krisen oder Attentaten – so eingeschränkt, dass sie kaum ihre Verwandten im Nachbarort besuchen, geschweige denn eine qualifizierte Ausbildung machen oder, im Notfall, qualifizierte medizinische Hilfe erhalten kann.
Die Lage ist für die Menschen in Palästina unhaltbar. Viele sind bereits den Weg ins Exil gegangen.
Tourismus als Wegbereiter zur Normalität
Doch gerade die Tatsache, dass Palästina – so zerstückelt das Land auch heute wird – ganz wichtige Stätten des sogenannten "Heiligen Landes" beherbergt, kann eine Chance zur Öffnung sein. Das vertritt Tourismusministerin Khouloud Daibes resolut: "Seit über 2000 Jahren empfängt Palästina BesucherInnen. Wir verfügen über viel Erfahrung und Know-how im Tourismus." Damit unterstreicht sie auch die traditionelle Gastfreundschaft und Weltoffenheit der palästinensischen Bevölkerung.
Tourismus in Palästina hängt allerdings von der politischen Situation ab – und vom Goodwill der Israelis, den TouristInnen Zugang zu gewähren. Denn diese erreichen Palästina ausschliesslich über Israel. So kommen heute nur gerade 5 Prozent des Tourismus im „Heiligen Land“ Palästina zu Gute; 95 Prozent der Einnahmen verbleiben in Israel. Pilgerreisende wagen sich in der Regel höchstens nach Bethlehem vor, bleiben da weder über Nacht noch geniessen sie eine Mahlzeit. "Alles in allem hinterlassen sie bloss die Abgase des Touristencars", kommentieren Einheimische aus Bethlehem lakonisch.
Der Tourismus nach Israel boomt: Im April 2008 verzeichneten die Ankunftszahlen einen Rekord mit 41 Prozent Zuwachs aufs Vorjahr. Die israelischen Tourismusverantwortlichen sind zuversichtlich, dass die für 2008 angepeilte Zahl von 2,8 Millionen ausländischer BesucherInnen erreicht werden kann. Da ist Potenzial – auch für Palästina.
„Die grösste Herausforderung“, so Tourismusministerin Daibes, „ist unsere Beziehung zu Israel. Wir benötigen klare Abmachungen mit geteilter Verantwortung, um im Tourismus gemeinsam einen Gewinn zu erwirtschaften.“ Ohne Bewegungsfreiheit würde Palästina von Israel weiterhin einfach für den eigenen Tourismus genutzt. Palästina stelle die Infrastrukturen, benötige aber Erlaubnisse für Cars, für Touristenführer und für Reisebüros, zudem einen freien Zugang aus Israel und aus Jordanien in die palästinensischen Gebiete.
„Um mit den Nachbarn wirtschaftlich wirklich kooperieren zu können, müssten wir auf gleicher Augenhöhe miteinander verkehren. So weit sind wir leider nicht“, bilanziert Daibes offen. Dennoch bleibt der Tourismus ein Hoffnungsträger für sie. Denn über die dringend benötigen wirtschaftlichen Perspektiven hinaus, stelle der Tourismus, so erklärte sie uns anlässlich unseres Besuches in Bethlehem im März 2008, ein Fenster gegen aussen dar, einen Weg aus der Isolation. Zudem könne der Tourismus durchaus auch ein positives Umfeld für Friedensverhandlungen schaffen. Israel und Palästina könnten im Tourismus ein gemeinsames Interesse entdecken, für dessen Entwicklung sich ein Zusammenspannen lohne.
Dafür müssten aber auch die Sicherheitswarnungen in den wichtigsten Entsendeländer der „Heilig Land“-Reisenden revidiert werden. "Touristen waren seit dem Jahr 2000 nie Ziel von palästinensischen Terroranschlägen", hält Daibes dazu im Interview mit dem Tages-Anzeiger fest. Das Tourismusministerium empfiehlt Besuche im Dreieck Ostjerusalem, Bethlehem und Jericho, das als sicher eingeschätzt wird; Daibes möchte aber auch die neuen alternativen Tourismusangebote unterstützen, die derzeit an verschiedenen Orten von palästinensischen Gemeinschaften lanciert werden.
Tourismus als Weg aus der Isolation
Gerade im abgeriegelten Nablus, in Hebron oder anderen umstrittenen Gebieten setzen neue Initiativen grosse Hoffnungen in den Tourismus. Auch benachteiligte palästinensische Gemeinschaften in Israel, etwa in Nazareth, oder die BewohnerInnen der Golanhöhen, die nach der Besetzung durch die Israelis in überwiegender Mehrheit die israelische Staatsbürgerschaft abgelehnt haben und nun mit der "Identitätskarte" aus der besetzten Zone keineswegs frei herumreisen können, rüsten sich für fremde Gäste, denen sie ihre Kultur und Geschichte selber präsentieren können.
Die Angebote von israelischen Veranstaltern schliessen in der Regel keinen Besuch von palästinensischen Orten oder Gruppen ein. Der palästinensischen Bevölkerung wird ihrerseits praktisch jeder Kontakt zu fremden Reisenden verunmöglicht. Das beschränkt nicht nur die Einkommensmöglichkeiten aus dem Tourismus für die palästinensische Bevölkerung; schlimmer noch sind die Auswirkungen dieser Isolation für das Image von Palästina: Viele Reisende kehren zurück, ohne je Kontakt zur palästinensischen Bevölkerung gehabt zu haben. Alles was sie wissen, stammt von israelischen Reiseführern. Das Ausmass der Naqba, der anhaltenden gewaltsamen Vertreibungen der palästinensischen Bevölkerung seit 1948, die in Israel noch immer weitgehend tabuisiert wird, erfahren fremde Reisende nicht. Das Bild bleibt völlig fremdbestimmt und verzerrt. PalästinenserInnen haben keine Chance, ihre eigene Kultur und ihre Geschichte darzustellen oder ihre Gastfreundschaft zu leben, die wiederum ihren Zusammenhalt und ihre Identität stärken würde.
Aufbruch mit neuen Initiativen
"Sie können Andere nicht mit Ihren eigenen oder fremden Wertmassstäben beurteilen. Sie müssen sie schon selber anhören", meint Maray Taiseer, Leiter der Organisation "Golan for Development", Arzt und findiger Wissenschaftler, vor allem für erschwingliche Gesundheitsvorsorge für Gemeinden, aber auch neue Techniken in der Bio-Landwirtschaft und Wasser-versorgung oder zur Entfernung von Minen, die – von den Israelis zum Teil bereits bei der Besatzung 1967 gelegt – heute mit der Erosion unmittelbar die Wohnhäuser an der Demarkationslinie bedrohen. Die Golan-Entwicklungsorganisation hat Unterkunfts-möglichkeiten und ein kleines Besuchszentrum eingerichtet. Taiseer möchte aber BesucherInnen nicht in Massen anziehen, bloss ein paar Gruppen mit Leuten, die sich wirklich interessieren – für Ausflüge in den Golanhöhen ebenso wie für die Situation der verbliebenen rund 18’000 Leute in den acht Dörfern (gegenüber 300’000 in 139 Dörfern vor der Besatzung durch die Israelis 1967). Und Künstler wären sehr willkommen, um in den Dörfern zusammen mit Einheimischen grosse Skulpturen zu fertigen, die auf öffentlichen Plätzen ersichtlich für alle den Aufbruch aus der verfahrenen Situation im Golan weisen könnten.
"Wir wollen Euch Nablus von heute zeigen", schlagen Nadia Dhifallah und Hadeel Faidi, Koordinatorin und Administrative Leiterin des Projektes Darna vor. "Darna" kann am Besten mit "Unser Haus" übersetzt werden – das Haus für derzeit 79 Organisationen aus dem abgeriegelten Nablus sowie den drei grossen Flüchtlingscamps in der Zone. Frauen und Kinder, orientierungslose Jugendliche, Erwerbslose, die nicht mehr nach Israel ausreisen können, um ihrer angestammten Arbeit nachzugehen, Studierende, die an der Einreise nach Nablus gehindert werden und deshalb ihr Studium an der für Palästina wichtigen An-Najah-Universität nicht fortführen können, Menschen, die einfach ihre Verwandten in Palästina besuchen möchten und nicht durch den Checkpoint kommen – sie finden Hilfe und rechtliche Beratung bei Darna. Und Darna versucht, die negative Energie aus der Auswegslosigkeit umzumünzen in sinnvolle Tätigkeiten und Erwerbsarbeit: Neben fallspezifischer Beratung und Rechtshilfe bietet sie ein öffentliches Informationszentrum mit Computern und Netzzugang sowie Ausbildungslehrgänge an, betreibt aber auch Aufbauprojekte – zum Beispiel für die Herstellung der traditionellen Seifen, nachdem die jahrhunderte alte Seifenfabrik den israelischen Angriffen zum Opfer gefallen ist. Oder weitere traditionelle Handwerksprojekte, die Darna im Fairen Handel zu vermarkten versucht. Integraler Bestandteil ist das Tourismusprojekt mit Führungen durch einheimische Guides in Nablus sowie Unterkunft bei Einheimischen, in einem kleinen Hotel oder in speziellen Wohnungen in den Flüchtlingscamps. Die grösste Schwierigkeit dabei war, so erzählten uns die verantwortlichen "Power-Frauen" von Darna, die GastgeberInnen aus den Flüchtlingscamps davon zu überzeugen, dass sie für ihre Gastfreundschaft – ein essentieller Wert in der traditionsbewussten palästinensischen Gesellschaft – mit Geld bezahlt werden. Diese hätten nämlich von dem Geld der Gäste oft gleich wieder Geschenke für die Gäste gekauft. Darna kassiert deshalb jetzt die Bezahlung für Übernachtung oder Touren direkt von den Gästen, wobei diese selber bestimmen können, wieviel sie geben wollen, und weist es insgesamt der Kasse für solidarische Aufbauarbeit in Nablus zu. Darna würde gern mehr Gruppen empfangen. Doch müssten auch ihre "Guides" für diese Aufgaben noch besser gerüstet werden.
Ein neuer Wegweiser für Reisende nach Palästina
Solche Initiativen aus palästinensischen Gebieten oder von palästinensischen Gemeinschaften in Israel bündelt die in Beit Sahour beheimatete "Alternative Tourism Group" (ATG) zu konkreten Angeboten. Sie spricht damit über Solidaritätsgruppen und kirchliche Kreise aus Europa und Amerika hinaus auch zunehmend kommerzielle Veranstalter für "Heilig Land-Reisen" an. So bot der von Journalisten gegründete und für solide Hintergrundinfos bürgende Schweizer Veranstalter "Background Tours" im Herbst 2008 erstmals eine "Heilig Land-Reise" mit einem von ATG veranstalteten Baustein an.
ATG, 2007 mit dem prestigiösen ToDO!-Preis für sozialverantwortlichen Tourismus ausgezeichnet, hat vor einigen Jahren einen umfassenden Reiseführer für Palästina aus Sicht der Palästinenser herausgegeben. "Palestine and Palestinians" ist zum Klassiker geworden und bereits auf Englisch und Französisch in einer zweiten aktualisierten Auflage erschienen. Im Ende 2008 kommt das Werk erstmals auch auf Deutsch als "Palästina Reisehandbuch" beim Palmyra Verlag Heidelberg heraus.
Über die letzten Monate hinweg hat ATG verschiedenste palästinensische TourismusanbieterInnen – trotz aller Schwierigkeiten für PalästinenserInnen, sich unter der israelischen Besatzung überhaupt treffen zu können – zu einer Netzwerk-Initiative für einen verantwortlichen Tourismus zusammengebracht. Gemeinsam erstellten sie einen Verhaltenskodex für Palästina-Reisende und -Anbieter. Tourismuskritische und Solidaritätsorganisationen zu Palästina aus wichtigen Entsendeländern Europas werden ab Winter 2008 anhand des neuen Verhaltenskodexes verstärkt auf die Möglichkeiten einer Reise nach Palästina hinweisen mit dem Ziel, neue Reisende und Reisebüros für einmalige unvergessliche Begegnungen jenseits der Mauern im "Heiligen Land" zu gewinnen.
Aktualisierte Fassung des Beitrags vom Sommer 2008
Quellen: www.atg.ps; www.palmyra-verlag.de; Unveröffentliche Recherche von Regula Kaufmann für die Alternative Tourism Group (ATG), 26.06.2008; work 04.07.2008; Tourists returning for view of West Bank life, AFP 16.06.2008; Israeli tourism peaks, despite dollar slump, www.eturbonews.com/print/3029 16.06.2008; Palestine aiming to woo adventurous travellers, www.eturbonews.com/prin/2666, 27.05.2008; Tages-Anzeiger 24.05.2008;eigene Recherchen vor Ort im März 2008
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