Basel, 29.11.2010, akte/ Die Wildnis, das war der Teil der Welt, der sich um die eigene Ackerfläche herum ausbreitete. Eine Gegend, ebenso ungezähmt wie unbewohnbar. Erst im Zeitalter der Aufklärung änderte sich die Einstellung zur Wildnis – sie galt als romantisch, als verlorenes Paradies. Heute werden Wälder und Berge als schützenswerte und bedrohte Wildnis wahrgenommen, die einen Kontrast zur Zivilisation bilden. Doch die Unbezähmbarkeit ist geblieben, wie der Schweizer Naturfotograf Peter A. Dettling in seinem Buch "Vergessene Wildnis" festhält. Die Natur beunruhige, ihre Dynamik mache sie bedrohlich. Das Ziel des Menschen sei es daher stets, die Naturkräfte einzudämmen. Für Dettling ist der Wolf ein besonderes Symbol für Wildnis und den Versuch, das Unberechenbare unter Kontrolle zu bringen. Den Wolf suchte Dettling im Bündner Oberland – und fand ihn tatsächlich. Ihm ist das Buch gewidmet.

Das Kapital des Buchs sind seine Bilder: Neben dem Wolf bekommt man Birkhuhn, Tannenhäher, Kreuzotter, Rotfuchs, Murmeltier, Gämse, und Steinbock zu Gesicht. Man steht mit dem Autor auf Felsgraten, blickt auf Gletscherseen und erlebt beim Alpenglühen das letzte Aufflackern der Sonne. Doch Dettling zeigt auch die Spuren, die wir in der Wildnis hinterlassen haben: Schneekanonen, künstliche Skipisten inmitten brauner Hänge, einbetonierte Bachläufe. Denn für ein Stück Wildnis, das zeigt der Fotograf, muss man ziemlich weit gehen.

Er nimmt die Anstrengung auf sich, schultert seine Ausrüstung und macht sich auf die Suche nach der Wildnis, um sie in der malerischen Morgen- oder Abendsonne zu fotografieren. Die Eindrücke seiner Exkursionen in der Surselva hält der Autor oft in "ungeschliffen einfachen" Sätzen fest, wie der Biologe und Redaktionsleiter der Fernsehsendung "Netz Natur", Andreas Moser, in seinem Vorwort anmerkt: "Da schreibt ein Wilder." Tatsächlich nimmt Dettling kein Blatt vor den Mund. Wie in einem Tagebuch bringt er die Themen zur Sprache, die ihm am Herzen liegen: So kritisiert er, dass die Schweiz keine Strategie hat, um das Aussterben der Arten zu stoppen. Er lässt die Leserinnen und Leser an seiner Skepsis gegenüber dem Tourismusmarketing teilhaben, das unberührte Landschaften, kleine Paradiese und wilde Natur verspricht, obwohl die Zivilisation die beworbenen Gebiete längst durchzogen hat und ein dichtes Netz an Wanderwegen tausende Touristen bis in den hintersten Winkel der Schweiz führt.
Dettling plädiert für Verzicht statt für Konsum. Er fragt, ob es nicht sinnvoller ist, den Sonnenaufgang zu geniessen, den Sternenhimmel zu bewundern und klares Wasser aus einer Bergquelle zu trinken, als das neuste Handy zu kaufen. In solchen Ausführungen schwingt die Überheblichkeit des Weltverbesserers gegenüber dem Rest der Welt mit. Störend wirkt, dass der Autor zwar den menschengemachten Klimawandel ankreidet, gleichzeitig aber beschreibt, wie er aus dem Flugzeug steigt, das ihn aus seiner kanadischen Wahlheimat über den Ozean in die Schweiz gebracht hat.

Von diesen Befindlichkeitsäusserungen heben sich die informativen Texte über die Geschichte des Wolfs und des Bären in der Schweiz wohltuend ab. So ambivalent die Meinungen zur Wildnis und vor allem zum Wolf auch sein mögen, es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Wildtiere sich in ein Ökosystem einfügen und ihre Aufgabe darin übernehmen. Und in der Diskussion um den Nutzen des Wolfs und die Möglichkeit eines Miteinanders von Wildnis und Zivilisation hält Dettling zudem Ideen bereit: Wie wäre es etwa, das Interesse an Bären und Wölfen für den Tourismus zu nutzen? In Peter A. Dettling hat der Wolf einen bildstarken Fürsprecher gefunden.

Peter A. Dettling: Vergessene Wildnis. Spurensuche in der Surselva.
Terra Grischuna Buchverlag 2010, 142 Seiten mit ca. 140 Farbfotos, gebunden, CHF 58.00, Euro 37.10, ISBN: 978-3-7298-1162-1

Das Buch kann direkt beim Verlag bestellt werden: www.terragrischuna.ch