Basel, 14.05.09, akte/ Den Jakobsweg bis nach Santiago unter die Füsse zu nehmen, nach Rom oder gar nach Jerusalem zu pilgern – das ist beileibe nichts Neues. Neu entdeckte Pilgerberichte aus dem Spätmittelalter zeigen, dass Pilgerreisen auch den modernen Massentourismus anbahnten: Pilger aus allen Ecken Europas verfolgten auf ihrer Fahrt nach den berühmten Heiligen Stätten, so unterschiedlich ihre Reiseerfahrungen auch waren, letztlich immer die selben Ziele. Dabei konnten sie auf ein dichtes Netz an Vermittlern abstützen, die ihre Reise durchorganisierten. Mit allen Vor- und Nachteilen, die aus dem modernen Massentourismus durchaus vertraut sind.
Die Reise eines niederadeligen Anonymus ins Heilige Land im Jahre 1494
Davon zeugt der Pilgerbericht des Reisenden, der 1494 zur "Rhaiss gheen Jerusalem und in das Heilige Lanndt" aufbrach. Sein Name bleibt unbekannt – deshalb "Anonymus". Er dürfte aus dem niedrigen Adel aus dem Umkreis des Münchner Hofes abstammen, aber doch so begütert gewesen sein, dass er sich in Venedig bei einem erfahrenen Schiffskapitän für 66 Goldgulden ein "Pauschalarrangement" nach Jerusalem mit Überfahrt auf der Galeere, Passagierscheinen, Taxen und Reisebegleitung inklusive leisten konnte. Die Fahrt verläuft abenteuerlich. Trotz Dolmetscher und Begleitung ist die Angst der Reisegesellschaft vor Stürmen und Piraten, vor allem aber vor den "böesen Haiden" gross. Prompt werden die Pilger bei ihrer Ankunft in Jaffa von den "Arrabiern" auch erst in einen Keller gesperrt und gedemütigt, bis die "Einreiseformalitäten" erledigt sind. 96 Tage nach der Abreise kommt der Anonymus an sein ersehntes Ziel: Jerusalem. Dort, am heiligen Grab, ist ihm völliger Ablass von seinen Sünden zugesagt. Höhepunkt jeder Pilgerfahrt ist der Ritterschlag in der Grabeskirche; danach darf sich der Pilger "Ritter des Heiligen Grabes" nennen, das unverkennbare Merkmal seiner Reise, das ihn zeitlebens zu Hause auszeichnen wird. An vielen weiteren heiligen Stätten kann er für sich und seine Familie Vergebung für seine Sünden – Nachlass letztlich vom Fegefeuer – erwerben. Hastig eilt die Reisegruppe denn auch von der Grabeskirche zum Ölberg, nach Golgatha, Gethsemane etc. – in zwei Wochen sammelt Anonymus 27 ganze Ablässe und zudem Teilablässe im Wert von über 800 Jahren, die er nach 83 Tagen Rückfahrt heil nach Hause bringt.
Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496-1498)
Wie normiert die Pilgerfahrt schon damals war, zeigt das Tagebuch des niederrheinischen Ritters Arnold von Harff. Er bricht gut zwei Jahre nach dem Anonymus zu seiner Reise auf, beschreibt indes den Besuch der heiligen Orte mit fast den selben Worten und betreibt die selbe Buchhaltung über die erworbenen Nachlässe für seine Sünden und diejenigen seiner Familie und Gönner. Seine Reise dauert allerdings länger, nämlich volle zwei Jahre. Sein Tagebuch, das er seiner Obrigkeit widmet, ist so ausschweifig gestaltet, dass – wie seine aktuellen Herausgeber unterstreichen – der ganze Teil der Reise vom Sinai aus durch Arabien nach Ceylon und Indien und zurück über die afrikanische Ostküste an die Quellen des Nils seiner Fiktion entsprungen und aus anderen Reiseberichten wie von Marco Polo zusammengeschrieben sein muss. Doch auch ohne den fingierten Teil der Reise zeugt der Bericht von der erquicklichen Neugier und Abenteuerlust des Ritters Arnold von Harff: Statt dem "Pilger-Trampelpfad" zu folgen und auf einem der Schiffe in Venedig einzuschiffen, die zum florierenden Pilgertourismus gehören, der von den venezianischen Behörden und Reeder, des Mameloukensultanats in Kairo und der Franziskaner von Jerusalem organisiert wird, pilgert er erst nach Rom und sucht auf seinem weiten Weg ins Heilige Land und letztlich bis nach Santiago de Compostela überall den Anschluss an Kaufleute, die ihm Reiseorganisation, Erfahrung und gute Gesellschaft bieten. Diese geniesst er redlich, selbst wenn die Unterkünfte im wahrsten Sinne des Wortes lausig sind, seine Kumpane ihn bisweilen übers Ohr hauen und ihre Geleitbriefe keinen Schutz bieten. In Gaza etwa wird auch Ritter Arnold von Harff drei Wochen in Eisen gefangen gesetzt. Er lässt sich aber von dem Ungemach, das ihn immer wieder ereilt, wenig beirren. Akribisch nimmt er Bestandesaufnahmen über Menschen, Sprachen und Alphabete, Trachten und Brauchtum, Glauben, Städtebau und Festungswerke, Flora und Fauna, kaufmännische Güter und über weitere "Kuriosa" und "Sehenswürdigkeiten" auf. In seinem Fremdsprachenverzeichnis taucht auch immer wieder die Frage auf: "Frau, kann ich mit dir schlafen?" – ein untrüglicher Hinweis darauf, dass schon damals Sex zum festen Inventar des Tourismus gehörte. Ritter Arnold von der Harff verbindet seine Pilgerreise durchaus mit weltlichen Zielen und zeigt sich auch skeptisch gegenüber dem Reliquien- und Ablasswesen, nachdem er auf seiner weiten Fahrt zweimal den Leib des Apostels Matthias und gar dreimal die Hand des heiligen Thomas zu sehen bekam. Doch auf seiner Reise lässt er keine heilige Stätte aus, die er "machen" kann, küsst fleissig Reliquien, wäscht sich mit heiligem Wasser, kauft Devotionalien als Souvenirs und erwirbt sämtliche Ablässe, die sich ein Pilger erhoffen kann. Die Parallelen zum modernen Touristen sind unübersehbar, wobei sich das Thema des "Ablasshandels" im modernen Massentourismus mit Sicherheit noch ergiebig vertiefen lassen würde.
Gerard Fouquet (Hrsg.): Die Reise eines niederadeligen Anonymus ins Heilige Land im Jahre 1494, Peter Lang Verlag, 2007, CHF 70.-, Euro 48.-, ISBN 978-3-631-56777-7Helmut Brall-Tuchel, Folker Reichert: Rom – Jerusalem – Santiago

Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496-1498), Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien, 2008, 280 Seiten, CHF 50.90, Euro 29.90, ISBN 978-3-412-20026-8