
Plastik-Alarm: Warum Wale mit vollem Magen verhungern
Wenig später läutet im griechischen Walforschungs-Institut "Pelagos" das Telefon. Alexandros Frantzis, wissenschaftlicher Direktor der Partnerorganisation von OceanCare, nimmt ab. Auf der Insel Mykonos sei ein toter Wal gefunden worden, erfährt der Meeresbiologe, der sein Leben der Erforschung von Pottwalen verschrieben hat. Er kennt die meisten Tiere, die in der Ägäis ihre Jungen gebären und in den Tiefseegräben nach Tintenfischen tauchen. Doch das junge Männchen, dessen Kadaver am Strand von Mykonos angeschwemmt worden ist, hat er lebend noch nie gesehen. Um das Rätsel seines Todes zu ergründen, seziert Frantzis das Tier – und stösst im geöffneten Magen auf einen stinkenden, unverdaulichen Klumpen: Mindestens hundert Plastiksäcke haben zusammen mit anderem Müll das Verdauungssystem blockiert. "Der Wal", klagt Alexandros Frantzis, "hat einen grausamen Tod erlitten." Der Plastik-Tod lauert in den Ozeanen rund um den Globus; das Ausmass, in dem Kunststoffmüll das maritime Leben bedroht, ist kaum vorstellbar. Wale, Delphine, Schildkröten und Robben verheddern sich in Kunststoffnetzen, die von Fischern gekappt worden sind und als tödliche Vorhänge durchs Wasser wabern.
Auf riesigen Müllhalden verwechseln Seevögel den blinkenden und glänzenden Unrat mit Nahrung und verschlingen Feuerzeuge, Zahnbürsten, Verpackungsmaterial und zahllose andere Plastikteile. Winzige Mikroplastik-Partikel reichern sich im Gewebe und in der Körperflüssigkeit von Fischen, Krebsen und auch Muscheln an. Vom Wal bis zur Muschel bleibt kein Meeresbewohner verschont: Die Tiere werden vergiftet oder verhungern mit vollem Magen; sie ersticken im Würgegriff von Nylonleinen und ertrinken mit gefesselten Flossen und Flügeln. Jährlich verenden so grob geschätzt 100’000 Meeressäuger und über eine Million Seevögel.
Jeder dritte Plastiksack landet im Meer
Das Massensterben ist die Folge menschlicher Gedankenlosigkeit. Von rund 350 Millionen Tonnen Plastik, die weltweit jährlich produziert werden, gelangen hundert Millionen Tonnen ins Meer, wie der Basler Meeresbiologe Prof. David G. Senn schätzt. Die Abfälle werden vom Landesinnern über die Flüsse in die Ozeane geschwemmt, von Müllhalden mit dem Wind aufs Meer hinaus getragen, von grossen Passagierschiffen, Frachtern und Fisch-Trawlern achtlos oder auch vorsätzlich über Bord geworfen.
Plastiksäcke, Autoreifen, CD-Scheiben, Zahnbürsten, Feuerzeuge, Zigarettenfilter, PET-Flaschen, sogar ausgediente Computer und havarierte Jachten – alles mehrheitlich aus Plastik, Zivilisationsmüll, der von globalen Strömungssystemen erfasst und zusammengetrieben wird. Zum Beispiel im Pazifik: Von den Philippinen über Japan und die Aleuten zur Westküste des nordamerikanischen Kontinents und nördlich vom Äquator wieder zurück zu Asiens Ostküste dreht der Strom im Uhrzeigersinn um den Pazifischen Ozean – und konzentriert alle mitgeführten Abfälle in einem gigantischen Teppich, der nördlich des Hawaii-Archipels um sich selbst rotiert. Der nordpazifische Müll-Strudel erstreckt sich über eine Fläche, die nur grob geschätzt werden kann und derzeit vermutlich die Grösse Westeuropas erreicht hat. Er ist der grösste von vier weiteren ähnlichen Systemen in den übrigen Weltmeeren: Auch im Mittelmeer, im Süd-Pazifik, im Indischen und im Atlantischen Ozean fahren riesige Müll-Inseln Karussell. Und alle wachsen stetig weiter.
Was tun? Von den Anrainerstaaten ist wenig zu erwarten: Die Regierungen lehnen jegliche Verantwortung und Zuständigkeit ab, weil die Müll-Teppiche sich ausserhalb staatlicher Hoheitsgebiete in internationalen Gewässern befinden. Doch die Situation ist dramatisch: Weltweit schlagen Wissenschaftler und Umweltschutzorganisationen Alarm. Denn die Plastik-Abfälle sind mehr als nur eine mechanische Gefahr, die Tiere fesselt, erdrosselt und tötet. Sie können auch hochgiftig werden: Von der Sonneneinstrahlung und vom Salzwasser zersetzt werden Stoffe wie Bisphenol A aus dem Kunststoff gelöst, sie stehen im Verdacht, das Erbgut zu schädigen. Darüber hinaus wirken grosse Konzentrationen winziger Plastikteile wie Schwämme, die Insektizide, Chlorverbindungen und andere gefährliche Chemikalien aufsaugen.
Der Tod lebt länger
Nicht nur wegen der toxischen Bedrohung erinnern Plastikteilchen fatal an radioaktive Teilchen: Strahlende Wolken werden durch die Luft mit atmosphärischen Strömungen, Plastikteppiche durchs Wasser von Meeresströmungen um die Welt getragen. Die Halbwertszeiten radioaktiver Isotope währen oft so lange, dass die Strahlung über viele Generationen anhält; ähnlich unverwüstlich sind die Plastikteilchen: Six-Pack-Ringe etwa haben eine Lebenserwartung von 200 Jahren, Einwegwindeln und PET-Flaschen zerfallen erst nach 450 Jahren und Angelschnüre können gar 600 Jahre lang den Meeresbewohnern tödliche Fallen stellen. Der grösste Teil des Plastikabfalls besteht aus Verpackungsmaterial: Von Anfang an als Abfall konzipiert, ist es meist nur kurze Zeit in Gebrauch und belastet den Planeten und das Leben auf ihm über Generationen hinweg.
Die Naturereignisse Erdbeben und Tsunami haben den Fukushima-GAU ausgelöst. Plötzlich denken wir übers Stromsparen nach, damit wir unsere Atomkraftwerke abstellen können. Jetzt sollten wir uns auch überlegen, wie wir Plastik sparen können, um eine absehbare Naturkatastrophe zu verhindern – und das Leben im Meer zu retten.
"Der Wal ist mit vollem Magen verhungert"
Interview von Daniel J. Schüz mit dem Meeresbiologen Dr. Alexandros Frantzis, Leiter des griechischen Forschungsinstituts Pelagos. Unterstützt von OceanCare erforscht er das Leben der rund 200 Pottwale, die in der Ägäis ihre Jungen gebären. Manchmal muss er aber auch deren Tod untersuchen.
Was haben Sie gefunden, als Sie auf der Insel Mykonos einen verendeten Pottwal sezierten?
Äusserlich war er stark abgemagert und unterentwickelt: Zweieinhalb Jahre alt und etwas mehr als fünf Meter lang. Das ist zu wenig. Deshalb schnitt ich ihn auf und stiess im Magen auf Plastiksäcke in rauen Mengen, mindestens hundert Stück, dazu weitere Plastikteile.
Und was haben Sie bei dieser Arbeit empfunden?
Überrascht war ich nicht; man stösst bei Wal-Obduktionen immer wieder auf Plastik. Das muss auch nicht zwangsläufig zum Tod der Tiere führen. Erstaunlich aber war die Menge: Der Magen war so prall gefüllt mit Unrat, dass der Wal keine Nahrung mehr aufnehmen konnte – und mit vollem Magen verhungerte. Es macht mich sehr traurig zu sehen, wie jämmerlich diese wunderbaren Tiere am Müll menschlicher Zivilisation verenden.
Warum verzehren Wale Plastiksäcke?
In mehreren tausend Metern Tiefe, wo Pottwale normalerweise ihre Beutetiere jagen, ist es so dunkel, dass sie die Tintenfische nicht sehen können. Sie orten sie mit ihrem Sonar-System. Das Echo, das ein Plastiksack zurückwirft, ist sehr ähnlich wie jenes von einem Tintenfisch. Vor allem Jungtiere mit wenig Jagderfahrung können das leicht verwechseln.
Lässt sich dieses Problem überhaupt lösen?
Wir müssen umdenken, aufklären, Druck machen. Wenn ich im Computershop einen kleinen USB-Stick kaufe, muss ich ihn mit einer Schere aus der massiven Plastikverpackung schneiden. Wenn ich eine Zeitung kaufe, kriege ich sie in Plastik verschweisst und in einem Plastiksack ausgehändigt. Die Verpackungsindustrie schwelgt in einer wahren Plastik-Manie – ein gesellschaftliches Problem. Jeder einzelne kann dazu beitragen, indem er auf unnötige Plastikprodukte und -verpackungen verzichtet.