Plötzlich die unerhörte Spannung
Im Dorfladen bin ich nach einem Schwatz gerade am Zahlen, als das Telefon klingelt: eine hastige, gepresste Stimme. Ich brauche einen Moment um zu merken, dass es Rashid ist, der Bürgermeister von Yanoun. Sonst hat er eben eine ausgesprochen ruhige und freundliche Stimme. ”Die Siedler kommen” schreit er ins Mobiltelefon. Und sofort bin ich draussen. Rashed ist noch bei seinen Schafen, wollte gerade aufbrechen zur Weiderunde. Doch jetzt steht er starr und blickt ins Tal hinauf. Und mit ihm die meisten Dorfbewohner. Sie sind aus den Häusern gerannt und blicken erregt nach oben. Ich sehe gar nichts von Siedlern. Doch Rashid sagt: “Etwa 15 sind es, beim Haus des Malers am oberen Dorfausgang.” Der Maler steht noch auf der Terrasse. Doch plötzlich verschwindet er im Haus. Und tatsächlich: da kommen die ersten Siedler um sein Haus herum, die Aussentreppe herauf auf die Terrasse. Dort besichtigen sie die Blumentöpfe, öffnen die Vorratsbehälter um zu sehen, was drin ist – als wäre es ihr Haus. So führen sie sich auf. Dann rufen sie etwas. Und ich antworte auf gut Schweizerdeutsch, laut und deutlich. Später wird der Maler mir sagen, dass die Siedler auch ihn zuerst angesprochen haben und dass er ihnen freundlich Auskunft gegeben hat, obwohl sein Vater von anderen Siedlern 1996 bei einer solchen Begegnung zum Krüppel geschlagen worden ist.
Ich soll mich gut sichtbar hinstellen. Das hat also geklappt. Und Fotos machen, ohne dass die Siedler es sehen. Sonst werden sie aggressiv und nehmen die Kamera, so steht es in den Unterlagen. Also muss ich die Fotos blind machen, mit gestrecktem Arm nach unten. Später wird sich zeigen, dass nur gerade 1 von 20 Fotos überhaupt einen Siedler zeigt. Die Dorfbewohner kennen die Aggressivität der Siedler zur Genüge. Viele sind jetzt in den Häusern verschwunden, ausser dem Bürgermeister und ein paar anderen und natürlich uns, den EAPPI-Beobachtern.
Jetzt ziehen die Siedler weiter zum Dorfbrunnen. Was sie dort tun, kann ich nicht genau sehen. Doch zählen kann ich sie: es sind 1 Erwachsener mit etwa einem Dutzend Halbwüchsigen. Schulausflug oder was? Dann ziehen sie weiter zu den grossen Feldern, dem unteren Dorfteil von Yanoun zu. Ein paar wollen den Feldweg nehmen, doch sie werden zurückgepfiffen, mitten auf die Felder, auf denen die Frucht schon ellenhoch steht. Jetzt wollen sie also wirklich demonstrieren, wer hier im Tal Herr ist und dass ihnen die Palästinenser und ihre Felder einen Pfifferling wert sind, ‘nichts’ gelten. So zerstören sie mutwillig die aufwachsende Saat. Später werde ich sie auf dem Hügel von Nabi Nun sehen, jenem heiligen Platz für Juden, Christen und Moslem. Ich werde wohl hingehen müssen, um zu schauen, was sie dort angerichtet haben.
Jetzt ist der Spuk vorbei. Langsam entspannt sich auch Rashed wieder. Lacht wieder. Diesmal ist es gut ausgegangen. Gut?
Seit November 2008 berichten Freiwillige aus dem ökumenischen Begleitprogramm EAPPI laufend von ihren Erfahrungen als MenschenrechtsbeobachterInnen in Palästina/Israel imBlog auf fairunterwegs.org