Plünderung der Meere hübsch verpackt
Wir haben acht der grössten und bekanntesten öffentlichen Aquarien Europas besucht und stellen fest: Die Realität deckt sich kaum mit den Behauptungen der Betreiber. Führungskräfte aller besichtigten Aquarien geben offen zu, dass der Grossteil ihrer Meerestiere aus Wildfang stammt. Zwar bestehen in nahezu allen Anlagen eigene Aufzuchtprogramme in geringem Umfang. Doch bis zu 90 Prozent der Fische in den Aquarien sind ihren natürlichen Lebensräumen entrissen.
In freier Natur gefangen
Ein wichtiger Lieferant von Korallenfischen und Haien für öffentliche Aquarien in Europa sitzt in Mombasa, Kenia. Rund 60’000 wild gefangene Tropenfische, Rochen und Haie exportiert das Unternehmen Tropical Sealife Ltd. – jeden Monat. Gefangen vor den Küsten von Kenia und Madagaskar, in versiegelte Plastiktüten gesteckt, in Boxen verpackt und nach Europa geflogen. Mehrere Dutzend Taucher fangen mit sogenannten Wadennetzen für Kenya Tropical Sealife Ltd. so viele Korallenfische wie möglich. Die Folgen: Riffe verlieren ihre Fischbestände, denn die Netze machen keinen Unterschied zwischen begehrten Arten und unerwünschtem Beifang. Zudem verletzen die Wadennetze Flossen, Kiemen, Schuppen und die schützende Schleimschicht der Fische, so dass viele zugrunde gehen.
Hohe Sterblichkeit
Danach dauert der Stress für die gefangenen Tiere an. Zwei Tage vor dem Versand erhalten sie kein Futter mehr, damit sie während der Reise nicht das Wasser verkoten. Der Hunger schwächt sie zusätzlich und macht sie anfällig für Krankheiten. Viele sterben. Das Ozeaneum in Stralsund, Deutschland, eines der grössten und modernsten Aquarien Europas, zeigt regelmässig atlantische Heringe, die in freier Natur saisonal grosse Schwärme bilden. Dann fängt das Ozeaneum-Team mit Netzen mehrere hundert Individuen, um sie auszustellen. Doch 70 Prozent der eingefangenen Heringe sterben noch bevor sie das Aquarium erreichen, berichtet uns eine Mitarbeiterin. Sie gibt zu, dass Heringe extrem sensibel auf menschliche Eingriffe reagieren und beim Fang leicht sterben. Die wenigen Überlebenden überstehen in Gefangenschaft keine sechs Monate. Doch bei der nächsten Schwarmbildung im offenen Meer lassen sie sich ja einfach "ersetzen".
Haischmuggel
Besonders delikat ist der Fang von Haien für Grossaquarien. Zu den gefragtesten Haien gehört der Sandtigerhai. Denn er sieht furchterregend aus, ist gross, aber duldsam, und überlebt in Gefangenschaft gemessen an anderen Grosshaien vergleichsweise lange. Ein Sandtigerhai ist zum Beispiel im Oceanário de Lisboa zu sehen, ein anderer im Ozeaneum in Stralsund. Sie wurden vor Südafrika gefangen. Doch die Art ist weltweit bedroht. Der Sandtigerhai wird erst spät geschlechtsreif, bringt nur wenige Junge zur Welt und ist daher besonders anfällig für Überfischung. In den USA, Australien und auch in Südafrika ist die Art deshalb geschützt. Dennoch erteilt Südafrikas Regierung Ausnahmegenehmigungen zum kommerziellen Fang von Sandtigerhaien für Meeresaquarien. Dazu kommen illegale Fänge vor Südafrika, wie unsere Recherche aufdeckt: Die Haie werden in der Nähe von Port Alfred gefangen, über 1000 Kilometer im LKW nach Kapstadt gefahren und von dort illegal zu einem Anbieter in den Niederlanden ausgeflogen. Dieser verkauft sie dann an Aquarien – für rund 30’000 Franken pro Hai.
Im Juli 2018 konfiszierten die südafrikanischen Behörden vier lebende Sandtigerhaie am Flughafen von Kapstadt. Die erforderlichen Exportgenehmigungen fehlten. "Die Beschlagnahmung der für die Niederlande bestimmten Haie weist darauf hin, dass das Problem des Schmuggels lebender Haie grösser ist als angenommen", stellte die Regierung vor den Medien fest: "Die Nachfrage von Aquarien für lebende Haie nimmt weltweit zu." Pikant: Kuratoren und Mitarbeitende von mindestens drei besuchten Aquarien sowie der Eigentümer eines Lieferunternehmens räumten ein zu wissen, dass Sandtigerhaie mehrere Jahre lang illegal aus Südafrika exportiert worden waren.
Grausame Gefangenschaft
Während gewisse Fischarten die Gefangenschaft einigermassen überstehen, kommen die meisten wild gefangenen Fische damit schlecht zurecht. Denn viele gefangene Arten schwimmen in ihrem natürlichen Lebensraum weite Strecken, wandern oder leben in grosser Tiefe. So steht Pinguinen, Schildkröten, Haien und den meisten Schwarmfischen im Aquarium nur ein winziger Bruchteil des Raums zur Verfügung, den sie in Freiheit kennen. Bei diesen Arten waren in allen besichtigten Aquarien entsprechende Symptome, Verletzungen und Krankheiten offensichtlich.
Im Ozeaneum zum Beispiel waren die Schnäbel einiger Hornhechte abgebrochen, vermutlich nach wiederholten Zusammenstössen mit dem Glas. Grosse Haie wie Hammerhaie und Bullenhaie als Hauptattraktionen öffentlicher Aquarien sind schnell schwimmende, wandernde Tiere im offenen Meer. Sie kommen mit einer beengten, abgeschlossenen Umgebung besonders schlecht klar. Immer wieder stossen sie gegen die Wände ihrer Tanks.
Schnitte, Schürfungen, Brüche
In allen besichtigten Aquarien, insbesondere aber in Monaco, Genua und im Meeresmuseum in Stralsund, wiesen die meisten Haie Schnitte und Abschürfungen an der Nase und den Brustflossen auf. Zudem sind die Flossen und der Rücken durch das permanente Entlangscheuern an den Wänden ihrer Gefängnisse oft deformiert.
Im Den Blå Planet, dem Nationalen Aquarium Dänemarks in Kopenhagen, gab der Kurator zu, dass Bogenstirn-Hammerhaie "nicht für Aquarien geeignet" seien, "aber da sie Kultcharakter haben und Besucher anziehen, werden sie wild gefangen und gezeigt." Doch die einzigartige Kopfform und die Position ihrer Augen macht Hammerhaie besonders verletzungsanfällig. Im Den Blå Planet werden derzeit drei erwachsene Hammerhaie gezeigt. Unlängst hätten es noch zehn werden sollen. Die übrigen sieben der in Taiwan erworbenen Haie sind infolge des Transports und an Verletzungen, die sie sich in Gefangenschaft zuzogen, gestorben.
Aber nicht nur Haie leiden. Ein weiteres Beispiel: Der Paletten-Doktorfisch, bekannt als «Dorie» aus dem Zeichentrickfilm "Findet Nemo". Aufgrund seines komplexen Fortpflanzungs-Zyklus ist er nur schwer züchtbar und zudem in Gefangenschaft hochanfällig für zahlreiche Krankheiten. Das häufigste, sehr schmerzhafte Leiden ist die KopfSeitenlinienkrankheit (HLLE), welche beim betroffenen Fisch Narben, Löcher, Läsionen oder sich ablösende Schuppen um Kopf und Augen bewirkt. Er verliert an Farbe, wird verhaltensauffällig, aggressiv und stirbt schliesslich. Jedes der acht überprüften Aquarien besitzt Doktorfische, und bei fast allen Tieren zeigte sich diese in freier Natur sehr seltene Krankheit in verschiedenen Stadien.
"Schleimig, stinkend, nass"
Im Gegensatz zu den herkömmlichen Zoos werden Aquarien in Europa im Hinblick auf den Tierschutz noch kaum in Frage gestellt. Das öffentliche Bewusstsein dafür ist erst am Erwachen. Gesetze existieren nur wenige und noch weniger staatliche Kontrollen. Abgesehen von den Meeressäugern wie Walen und Delfinen wird dem Wohlergehen von Wassertieren in Gefangenschaft bislang kaum Beachtung geschenkt. Sinnbildlich witzelte ein Aquariumskurator: "So etwas wie Grausamkeit gegen Tiere in Aquarien gibt es nicht. (…) Die Leute nehmen Fische nicht als empfindsame Tiere wahr. Denn sie sind nicht knuddelig und niedlich, sondern schleimig, stinkend und nass."
Wir haben bei unseren Aquarien-Besuchen einen ganz anderen Eindruck erhalten. Praktisch alle Meerestiere machen in Gefangenschaft schwerstes Leid durch. So modern ein Grossaquarium auch sein mag: Es kann unmöglich den Lebensraum Ozean auch nur ansatzweise nachahmen.