Der Cousin in Südafrika
Südafrika ist in der Schweiz kein Thema… mehr. Doch, doch: WM, Fussball, Lärmgeschmetter in den Stadien, schöne Hotels, riesige Stadien. Warum nicht anschliessend an das Fussballevent noch Krügerpark im Norden oder Baden an den Stränden im Süden? Das weckt Erinnerungen, das hatten wir doch auch schon mal: Schweizerinnen und Schweizer auf den ersten Plätzen der südafrikanischen Tourismusstatistik. Schweizerinnen und Schweizer, die schwärmten von Meer, Löwen, glücklich lächelnden schwarzen Kellnern und den freundlichen weissen Polizisten. Wenn ich zu Zeiten der Apartheid in Kirchgemeinden, Schulen, auf Diskussionspodien mit Besucherinnen und Besuchern aus  Südafrika von den harten Realitäten im andern Südafrika berichtete, waren immer welche da, die gerade aus den Ferien zurück waren oder, noch besser, einen Cousin, einen Bruder oder eine Tante hatten, die sagen konnten, wie es wirklich war. Sie wussten es besser als die südafrikanischen Zeuginnen und Zeugen. Sie schwärmten von der einzigen wirklichen Demokratie in Afrika, auch wenn die Mehrheit des Volkes kein Wahlrecht hatte (Die Schweiz galt ja auch als Demokratie, und die Hälfte des Volkes war nicht dabei). Sie erklärten, dass es ganz unvorstellbar sei, dass Züge und Busse noch fahren, Fabriken noch produzieren würden, wenn dies die Weissen nicht weiter übernähmen, auch wenn wir ihnen erzählten, dass dies bereits zum grossen Teil von der übrigen Bevölkerung geleistet wurde.

Noch nicht reif für die Demokratie
Es gab in Stadt und Land eine weit verbreitete Sympathie für das weisse Südafrika: Sympathie für die Buren, die 1902 von den Englischsprachigen besiegt wurden, Sympathie mit den 4 Millionen Weissen, dem ähnlich kleinen Volk wie die Schweiz. Bewunderung für jene, die gegen die "kommunistische Gefahr" auf Abwehrposten standen. Das Ganze gemischt mit Rassismus: Die Schwarzen waren (noch) nicht reif; sie waren wie Kinder; sie brauchten Führung und Erziehung. Wir kannten dieses Vokabular aus Südafrika. Diese Sicht der Dinge geisterte aber nicht nur im sogenannten Volk herum, sondern in  wirtschaftlichen und politischen Kreisen. Einer der Forscher des Nationalfondsprojekts *NFP 42+, Jörg Künzli, der sich als Jurist mit Menschenrechtsfragen befasst, sagte mir, er sei bei seinen Studien in den Archiven des Bundes erschrocken, auf wie viel rassistische Aussagen er gestossen sei. Ich bestätigte ihm, dass ich solches nach Audienzen im Bundeshaus mit und auch ohne südafrikanische Besucher in meinem Gedächtnis archiviert hätte.

Der freisinnige, jüngst verstorbene Politiker Ernst Mühlemann betonte in Streitgesprächen immer wieder, dass wir uns gescheiter mit ihm dafür engagieren sollten, Schwarze auszubilden, damit sie in  etwa 20 Jahren politische Mitverantwortung übernehmen könnten. 20 Jahre, das war Ende der Achtzigerjahre auch in den Augen der Bankkader der Grossbanken und der Wirtschaftsbosse der Zeithorizont, obwohl gerade unter ihnen doch einige wissen mussten, dass der südafrikanische Staat bankrott war.

Aufarbeitung auf halber Strecke
1990, am 11. Februar, wurde Nelson Mandela frei gelassen. Damit begannen vier Jahre der harten Verhandlungen, der schlimmsten politischen Gewalttaten und der Vorbereitung der ersten freien demokratischen Wahlen. Seit 16 Jahren versucht Südafrika anders zu leben. Dabei lastet die Vergangenheit schwer. Milliarden von offenen und geheimen Schulden wurden zurückgezahlt und fehlten deshalb bei der Verbesserung des Lebensstandards der Armen. Rund 3,5 Millionen Menschen waren zwangsumgesiedelt worden. Heute noch ist die Landreform eine ungelöste Aufgabe. Während Jahrzehnten hatte das Menschenleben keinen Wert. Dies äussert sich heute im Verhalten im Strassenverkehr oder in der grassierenden öffentlichen und häuslichen Gewalt. Die Trennung in der Gesellschaft verläuft nach neoliberalen Regeln, aber weitgehend immer noch nach Schwarz und Weiss. Die Wahrheitskommission hat mit der Aufarbeitung der Vergangenheit angefangen, aber das, was sie in ihrem Schlussbericht forderte, harzt: Wahrheit, echte Reue und Wiedergutmachung als ein Prozess, der in die Zukunft führt.

Auch in der Schweiz: Die Grossbanken haben den Apartheidstaat finanziert und sich eine goldene Nase verdient, und dann erst noch die ausstehenden Schulden zurückgefordert. Die Armeen und Geheimdienste Südafrikas und der Schweiz haben zusammengearbeitet und damit die Repression im Land und den Krieg gegen Angola gestützt. Schweizer Firmen haben Waffen und Chemikalien geliefert für den totalen Krieg gegen das Volk. Holderbank/Eternit hat für Millionenbeträge in den Townships gebaut. Die Schweizer Regierung hat bis zuletzt normale Beziehungen zu einem Unrechtsregime aufrechterhalten und Sanktionen vermieden (ausser UNO-Embargos gegen Öl- und Waffenlieferungen). Die Aufarbeitung wurde durch den NFP 42+-Bericht* teilweise geleistet, aber durch die Schliessung der Archive schwer behindert. Die südafrikanischen Menschenrechtsgremien haben verlangt, dass der Bundesrat sich zum Bericht und seinen Resultaten äussert. Der Bundesrat hat dies verweigert. Anerkennung der Mitschuld, Entschuldigung und substantielle Entschädigung gibt es bis jetzt aus der Schweiz nicht. Deshalb bleibt die KEESA (Kampagne für Entschuldung und Entschädigung) dran: In Südafrika und in der Schweiz gibt es unfinished business, Unerledigtes, das den Weg in die Zukunft erschwert und irgendwo im Gepäck der WM-Reisenden mitfliegt.

Vreni Schneider Biber ist Theologin und war als Verantwortliche bei der KEM (Vorgängerorganisation von mission 21) für Südafrika zuständig und jahrelang im Kampf gegen das Apartheid-Regime und gegen dessen Unterstützung aus der Schweiz engagiert.

*NFP 42+ Nationalfondsprojekt «Die Schweiz und Südafrika 1948 – 1994»,
Schlussbericht 2005, Verlag Haupt, Bern.

Der Beitrag erschien in der Zeitschrift Vice-Versa der Fachstellen Oekumene, Mission, Entwicklungszusammenarbeit (OeME) und Migration (FaMi) der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Ausgabe 1/2010. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.