Die Selbstmordrate liegt im nordöstlichen Bundesstaat mit den Touristenstädten Cancun, Playa del Carmen und Tulum eineinhalb Mal höher als im Landesdurchschnitt.  Die Anzahl der Menschen, die unter Angststörungen oder Depressionen leiden, ist doppelt so hoch wie sonstwo in Mexiko. Der Alkoholismus grassiert. Das psychische Leiden in Quintana Roo ist so offensichtlich, dass die Gesundheitsbehörden begonnen haben abenteuerliche Hypothesen aufzustellen, wie die, das tropische Klima der Halbinsel Yucatan und die hohen Temperaturen hemmten die Dopaminausschüttung und erhöhten das Risiko von Depressionen und Selbstmordphasen.

Sébastien Fleuret und Clément Marie dit Chirot von der Recherchegruppe Alba Sud haben im Januar 2020 PatientInnen und im Gesundheitswesen Beschäftigte interviewt. Sie kommen auf andere Gründe für das psychische Leiden im Urlaubsparadies: beträchtliche Zuwanderung von Arbeitnehmenden – Quintana Roo gehört zu den Bundesstaaten mit rund 60 Prozent MigrantInnen, die von anderen Regionen herziehen, um im Tourismus zu arbeiten – schlechte Arbeitsbedingungen, zunehmende Kriminalität und Unterfinanzierung des lokalen Gesundheitssystems. Und sie befürchten, das Problem könnte sich durch die Covid-19-Krise verschärfen.

Im Hamsterrad ausbeuterischer Arbeitsbedingungen

Eine junge Hotelmitarbeiterin, nennen wir sie Ximena, fühlte sich entwurzelt und einsam und hatte Schwierigkeiten, sich an die lokale Gesellschaft anzupassen. Nachdem sie an die Playa del Carmen gezogen war, litt sie einige Jahre lang schwere Depressionen: "Wir sagen hier, entweder adoptiert dich die Stadt oder sie treibt dich ab!" Die Hotelarbeit nimmt so viel Zeit in Anspruch, dass ihr soziales Leben sich fast ausschliesslich auf berufliche Beziehungen beschränkt, die aufgrund der grossen Fluktuationen instabil sind. MitbewohnerInnen kommen und gehen, häufig muss sie selbst die Unterkunft wechseln. Trotz der Chance, die eigene wirtschaftliche Situation zu verbessern, sagt sie: "Viele sind es schliesslich leid, allein zu sein, und kehren zurück." Die Besonderheiten von Service- und Gastgewerbejobs in der Hotelbranche tragen zur Arbeitsbelastung bei: "Das Hotelgeschäft ist eine sehr anspruchsvolle Arbeit, insbesondere die Jobs mit Gastkontakt. Du darfst dich nicht schlecht fühlen und das Gesicht, das du den Gästen zeigst, muss immer das gleiche sein, egal ob du dich gut fühlst oder nicht. Du musst in gewissem Sinne eine Rolle spielen." Diese sogenannte emotionale Arbeit stellt einen Risikofaktor für Burn-out oder Suchtverhalten dar, wie letztes Jahr von den mexikanischen Behörden anerkannt wurde, die mehr Präventionsarbeit gegen solche Störungen zu leisten vorhat.

Eine weitere Hotelangestellte aus Tulum, hier heisst sie Ida, berichtet, dass sie an sechs von sieben Tagen von morgens bis abends arbeitet. Wegen der überfüllten Strassen dauert der Arbeitsweg bis zu einer Stunde. Wenn sie nach hause kommt, möchte sie nur noch duschen und schlafen. Sie hat keinen Hunger und isst entweder nichts oder knabbert an Nachos oder anderem Junk Food. Ihren freien Tag verbringt sie mit Schlafen, an Freizeitaktivitäten mag sie gar nicht denken. Sie würde gerne ihren Job wechseln und sich weiterentwickeln, aber selbst darüber nachzudenken, was sie tun könnte, schafft sie nicht, weil ihr Verstand dafür viel zu beschäftigt ist.

Ein 18-jähriger Mann aus Chiapas, hier Ruben genannt, ist Wartungsarbeiter in einem der Hotels an der Riviera Maya. Er leidet unter der Last der Verantwortung für seine Familie, an die er den grössten Teil seines Einkommens überweist. Für den jungen Mann, der gerade erst Teenager war, ist die Belastung so schwer, dass er mehrmals daran gedacht habe, sein Leben zu beenden.

Die Kinder leiden mit

Auch die Kinder der psychisch angeschlagenen Tourismusangestellten seien betroffen, sagt eine der befragten Psychologinnen: "Das Unglücklichsein der Eltern überträgt sich auf die Teenager. Die Eltern sind kaum zugänglich, weil deren Zeit von schlecht bezahlten und unsicheren Jobs wie Reinigung, Service oder Kellnern in Anspruch genommen wird. Es gibt auch bei den Kindern viele Selbstverletzungen und Selbstmordversuche. Unter dem Schutz der Anonymität erzählt sie von einem weiteren Problem bei Kleinunternehmern: "Alle sind von Schutzgeldpressung betroffen, sogar jene, die bloss Tacos und Tamales verkaufen. Viele sind gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben, da sie Drohungen erhalten. So zum Beispiel ein Tacos-Verkäufer, der angeschossen wurde, weil er sich weigerte, das Schutzgeld zu zahlen." Im Tourismussektor sei diese Bedrohung zu einer Quelle von Stress und Angst geworden. "Sie können aus Angst vor Repressalien mit niemandem darüber sprechen. Und nichts geschieht, um die Situation zu verbessern. Das macht uns hilflos." 

Die Situation ist umso kritischer, weil es bei der psychischen Gesundheitsversorgung an allen Ecken und Enden fehlt. Auf 100’000 Einwohner gibt es gerade einmal 1.27  Psychiater und keine einzige psychiatrische Klinik. Auch im mexikanischen Vergleich ist das eine krasse Unterversorgung. Aber nicht nur der Mangel beim Fachpersonal macht den Zugang zur Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen in der Tourismusdestination schwierig, auch die Kosten sind für die meisten Betroffenen unerschwinglich.

Selbsthilfegruppen mangels staatlicher Gesundheitsversorgung

Immerhin ist das Bewusstsein für die Gesundheitskrise gewachsen. Die Einführung eines Gesetzes zur psychischen Gesundheit für Quintana Roo steht auf der politischen Agenda. 2016 wurde der Verein für Selbstmordprävention an der Playa del Carmen gegründet. Zusammen mit den Behörden von Solidaridad und der Gemeinde Playa del Carmen betreibt er die Notfall-Hotline für Menschen in psychischen Notlagen. Betroffene von psychischen Störungen haben sich in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen, in denen sie sich austauschen oder mit Angehörigen von Gesundheitsberufen ihre Schwierigkeiten diskutieren. Cheroky Mena von einer der Selbsthilfegruppen erzählt: "Die Teilnahme an Gruppensitzungen kostet 50 Pesos, das ist rund zehnmal billiger als eine private Beratung. Das Geld wird zusammengelegt, und wenn jemand in Not ist, greifen wir auf das Ersparte zurück um zu helfen. Eine aus unserer Gruppe erhielt 1’000 Pesos für Medikamente. In Playa del Carmen gab es die Medikamente, die sie braucht, nicht. Sie musste ihre Familie dazu bringen, sie in ihrer Heimatstadt zu kaufen und zu senden." – Die Schwierigkeiten, an die richtigen Medikamente zu kommen, ist eine weitere Baustelle, die noch geschlossen werden muss, um die psychische Gesundheitskrise einzudämmen, welche die Akteure der Forschung, des Gesundheitssystems und des Tourismus noch kaum zu untersuchen begonnen haben.