2004 sind so viele Leute international gereist wie überhaupt noch nie: 760 Millionen grenzüberschreitende Reisen wurden unternommen, das waren 69 Millionen mehr als im Vorjahr. Diese Zuwachsrate von 10 Prozent ist die höchste seit gut zwanzig Jahren, verkündet die Welttourismusorganisation (WTO-OMT). Dabei legte die Region Asien-Pazifik mit 29 Prozent am stärksten zu, gefolgt vom Mittleren Osten mit 20 Prozent; vergleichsweise bescheiden nehmen sich die Zuwachsraten von 7 Prozent für Afrika und „nur“ gerade 4 Prozent für Europa aus. 2004 war unbestritten ein Jahr der Fernreise. Wieviel Geld diese international Reisenden generiert haben wird erst im Juni bekannt. Doch die WTO-OMT schätzt, dass die Einnahmen mindestens den selben Zuwachs verzeichnen werden wie die Zahl der Reisenden: Zweistellig also! Kein Wunder, jubiliert die Branche am jährlichen „Stell-Dich-Ein“ auf der Internationalen Tourismusbörse Berlin (ITB). Die Tourismuswirtschaft bewegt sich aus dem Tal heraus, in dem sie seit etlichen Jahren selbstmitleidig schmorte; Attentate, Geiselnahmen, SARS und die Vogelgrippe hatten das ihre dazu beigetragen, die Reiselust zu dämpfen. Doch jetzt ist wieder Wachstum angesagt. Und das soll bloss nicht durch die Tsunami-Katastrophe gebremst werden. „Abfeiern bis Sonnenaufgang“, lautet die Devise, wenn die Reisebranche endlich wieder als „Konjunkturmotor“ da steht. Gambia vermeldet zweistellige Zuwachsraten für 2004, ebenso Mexiko, die Dominikanische Republik 13 Prozent, die Philippinen 21 Prozent und Ägypten gar mehr als 34 Prozent Zuwachs aufs Vorjahr – dies nur einige der Erfolgsmeldungen. Noch eindrücklicher sind die auf der ITB 2005 präsentierten Ausbauvorhaben: So will Ägypten die Zahl der Reisenden von ca. 8,1 Millionen heute bis 2014 verdoppeln; ab sofort soll’s übrigens „Schnäppchentouren“ mit so genannten „Verkaufsveranstaltungen“ – früher hiessen sie einfach „Butterfahrten“ – ins Land der Pharaonen geben. Bekannt waren solche „Butter-Ferienflüge“ bislang vor allem in der Türkei. Auch diese will ihre Ankunftszahlen gehörig vervielfältigen und dafür in Antalya rund 30’000 neue Hotelbetten aufstellen. Ebenso will Jordanien in den nächsten sechs Jahren sein Tourismusaufkommen verdoppeln und stellt die Sache der Einfachheit halber gleich in Zahlen vor, nämlich von heute 814 Millionen US Dollar Einnahmen auf mindestens 1,3 Milliarden. Das bringt die Euros und Dollars zum Rollen: Mexiko will allein für seine Werbung im Ausland 20 Millionen US Dollar aufwerfen, Singapur gleich eine Milliarde Euro und das Emirat Qatar präsentiert einen Masterplan zum Ausbau des Tourismus im Umfang von satten 15 Milliarden US Dollar. So sprechen die Fachblätter nur noch von der „Gute-Laune-ITB“, bei der Geschäftsabschlüsse und neue Projekte zügig mit Sekt begossen werden.
Sichtlich beflügelt vom Aufschwung malen die Welttourismus-Eliten auf der ITB auch rosa Szenarien, wie sie mit dem Tourismus die weltweite Armut bekämpfen wollen. Geoffrey Lipman, früher Präsident des World Travel & Tourism Council (WTTC), heute Special Advisor der WTO-OMT und Präsident des neuen Spitzenverbandes International Council of Tourism Partners (ICTP), hat sich keck auf die neue ICTP-Fahne geschrieben, die „Make Poverty History Campaign“ in die Branche zu tragen. Ohne allerdings jemals mit den AktivistInnen der weltweiten NGO-Kampagne, die unter diesem Slogan für die Erreichung der Millenniumsziele (MDG) eintritt, Kontakt aufgenommen zu haben. Wozu denn, kommentiert er eine entsprechende Frage während der ICTP-„Make Poverty History“-Pressekonferenz auf der ITB, der Slogan sei doch gut. Die in Hawaii domizilierte ICTP wolle sich vor allem Afrika zuwenden, wo die Armut am grössten sei. Die Kampagne sei von bestechender Einfachheit, nämlich einen möglichst breiten Aufruf zu lancieren, den ärmsten Ländern zu helfen. Und zwar Hilfe in der klaren Form von Schuldenstreichung, der Verdoppelung der Entwicklungsgelder und Fairem Handel. Das Publikum traut seinen Ohren nicht, kennt man doch den selben Geoff Lipman in seiner Rolle als Spezialberater der WTO-OMT für Han-delsfragen als einen glühenden Verfechter weiterer Liberalisierungen im Tourismus, die bekanntlich dem Fairen Handel nicht gerade zuträglich sind. Tags darauf sitzt Geoff Lipman dann mit dem Hut des Special Advisor auf dem Podium der WTO-OMT, die bereits zum dritten Mal in Folge auf der ITB ein Forum zu ihrem "Armutsbekämpfungsprogramm" ST-EP (Sustainable Tourism – Eliminating Poverty) abhält (siehe akte-Kurznachrichten 1/2003, 2/2004). Mit 100 Millionen US Dollar sollen neue ST-EP-Tourismusprojekte zur Reduzierung der Armut und Erreichung der MDG beitragen. Auch ST-EP wolle sich besonders Afrika widmen, bereits entwickle man ein Projekt zum Ausbau des Tourismus in Äthiopien. Neu will zudem die WTO-OMT auf Mikrokredite setzen. Auf die Frage aus dem Publikum, ob man dieses Geschäft nicht besser den Stellen überlassen sollte, die sich schon seit Jahren damit auseinandersetzten, meint der WTO-OMT- Delegierte Eugenio Yunis, schliesslich sei die Welttourismusorganisation ja jetzt eine UNO-Organisation und die UNO habe 2005 zum Jahr des Mikrokredites erkoren, weshalb man bei ST-EP heuer speziell die Chancen der Mikrokredite für den Tourismus hervorhebe. Doch der Saal lässt sich nicht so leicht von der WTO-OMT-Rhetorik abspeisen. Medienleute, NGO- und Behörden-Vertreter stellen kritische Fragen: Warum richtet sich die WTO-OMT mit ihrem ST-EP-Programm nicht in erster Linie an ihre eigenen Mitglieder, nämlich Regierungen, nationale Tourismusverbände und Unternehmen, um sie zu sozial gerechterem Wirtschaften und zu fairen Spielregeln auf dem Weltmarkt anzuhalten? Weshalb setzt sich ST-EP nicht konkret für faire Arbeitsbedingungen im Sektor ein? Dies würde auch keinen aufgeblasenen ST-EP-Apparat erfordern. Überhaupt sollten, so eine weitere Anregung aus dem Publikum, für das ST-EP-Programm in erster Linie Tourismusunternehmen und nicht Regierungen zur Kasse gebeten werden. Von ihrem Podium aus üben sich die WTO-OMT-Delegierten aber weiter in ihrer gewohnten Unverbindlichkeit. So bleibt die ST-EP-Initiative schwammig und die als „Forum“ betitelte jährliche Konsul-tationsveranstaltung auf der ITB eine pure Staffage, wird doch auch nichts schriftlich festgehalten. Klar wird eigentlich nur, dass die WTO-OMT im aktuellen Aufwind des Tourismus mit ihrem ST-EP-Programm die ärmsten Regionen und Länder der Welt wie Äthiopien neu für den Tourismus erschliessen und dafür, unter dem Vorwand der „Armutsbekämpfung“, vor allem neu die Töpfe der Entwicklungsgelder anzapfen will. /plus
Quellen: Travel Inside 8.4.2005; FVW 18.3.2005; ITB Tagesbericht 13.3./12.3./11.3.2005; TTG Asia ITB Daily 12.3.2005; International Council of Tourism Partners (ICTP) Dossier zur Pressekonferenz 12.3.2005, www.tourismpartners.org; Media Information from the WTO, 11-15 march 2005, und Background auf www.world-tourism.org; Travel News Europe March 2005; WTO-World Tourism Barometer January 2005; eigene Recherchen