Rayen
Der Schreibwettbewerb "Die Basler Eule" wurde 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein gegründet. Auch dieses Jahr waren wieder Jugendliche und Kinder zwischen 10 und 18 Jahren aus der Region Basel dazu aufgerufen, sich fantasievolle Geschichten auszudenken. Das Thema des 15. Wettbewerbs der "Basler Eule" hiess "Sprach: Kein Problem – und lief davon". Mit dem gleichen Titel ist im November die Publikation erschienen, mit welcher die 20 besten der insgesamt 313 Texte der Jugendlichen dem Publikum vorgestellt werden.
Rayen ist die besinnliche Weihnachtsgeschichte von Robin Rickenbacher. Schreiben gehört nebst dem Ausgang mit Kollegen zu den Hobbys des 15-jährigen Gymnasiasten.
Es war ein kalter grauer Wintertag. Der Himmel war mit grossen schweren Wolken verhangen, und kleine Schneeflocken rieselten auf die feierlich geschmückten Dächer der Stadt nieder. Der Wind pfiff kalt durch die dunklen Gassen und zwang die Leute in ihre warmen Häuser zurück. Es war der 23. Dezember, einen Tag vor Heiligabend. Die Schaufenster der vielen Geschäfte waren alle mit fliegenden Rentierschlitten, dicken lachenden Weihnachtsmännern und glitzernd verpackten Geschenken dekoriert. Die Lautsprecher auf den Strassen trällerten seit Tagen frohe Weihnachtslieder. Alle Menschen waren an diesem Abend zu Hause bei ihren Familien und verbrachten einen gemeinsamen ruhigen Abend, bevor die ganze Verwandtschaft über die Festtage anmarschierte.
Auch Mr. John Kittel war an diesem Abend zu Hause. Allerdings allein. Er stand in der Küche und schnitt ein grosses Stück Brot in zwei Hälften, bevor er es mit Schinken, Käse und Essiggurken belegte. Dazu hörte er Radio, allerdings hatte er mehr als zehn Minuten suchen müssen, bis er einen Sender fand, der keine alberne Weihnachtsmusik spielte. Mr. Kittel hasste Weihnachten. Das war natürlich nicht immer so gewesen. Früher, als Kind, war es für ihn das schönste Ereignis im Jahr gewesen. Es hatte ein tolles Festessen gegeben und anschliessend Geschenke für alle. Doch inzwischen war er pensioniert und lebte allein in einer kleinen Wohnung. Er hatte weder Kinder noch eine Frau noch sonst irgendwelche Verwandten, die sich um ihn scherten. Den Anblick der glücklichen Familien, die gemütlich um den Tannenbaum herumsassen und mit Champagner auf die schöne Zeit anstiessen, ertrug er einfach nicht. Daher kaufte er immer eine Woche vor den Feiertagen genügend ein und ging bis nach Neujahr nicht mehr aus dem Haus. Das war sein Leben. Nicht gerade lustig, aber dafür friedlich.
Mr. Kittel legte das belegte Brot auf einen Teller und füllte heissen, dampfenden Tee in eine Tasse. Dann trug er beides zum Fernseher und griff nach der Fernbedienung. Seine Wohnung war recht karg eingerichtet. An den Wänden hingen keine Fotos oder Bilder, nur eine Urkunde vom Hochschulabschluss, die direkt über dem alten Fernseher angebracht war. Eine kleine Kommode mit alten Heften, Schreibgeräten und ordnerweise korrigierten Prüfungen war das Auffälligste im ganzen Raum. Das alles hatte Mr. Kittel in seinen rund dreissig Jahren als Lehrer gesammelt und aufbewahrt. Es war, wie er fand, die beste Zeit seines Lebens gewesen, obwohl er es auch dort manchmal richtig verbockt hatte.
Er wollte gerade den Fernseher einschalten und genüsslich in sein Sandwich beissen, als plötzlich das Telefon klingelte. Mr. Kittel starrte es verdutzt an. Normalerweise rief ihn niemand an. Zögernd erhob er sich aus seinem Sessel und schlurfte zum Telefon. Mit einem leichten Kribbeln im Bauch hob er den Hörer ab.
"Hier spricht Mr. Kittel, was kann ich für Sie tun?"
Stille.
"Hallo? Wer ist da?"
Er hörte jemanden atmen, aber niemand sprach.
"Hören Sie, ich werde jetzt auflegen." Mr. Kittel wollte gerade den Hörer auf die Gabel knallen, als eine Stimme, scharf wie ein Rasiermesser, in sein Ohr drang.
"Mr. Kittel. Schön, wieder mal von Ihnen zu hören. Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin?"
Mr. Kittel starrte den Hörer an.
"Wer sind Sie? Und was wollen Sie?", fragte er etwas perplex.
"Ich möchte Ihnen frohe Weihnachten wünschen", sagte die Stimme. Es handelte sich um einen Mann, da war sich Mr. Kittel sicher.
"Mein Name ist Rayen Torrens."
Dann legte der Mann auf. Mr. Kittel liess geistesabwesend den Telefonhörer sinken. Was zum Teufel sollte das? Wer zum Henker war Rayen Torrens? Stirnrunzelnd liess er sich in seinen Sessel fallen. Staub wirbelte auf, und die Partikel tanzten im Licht der Stehlampe. Das Brötchen stand noch immer unberührt auf dem Tisch, doch ihm war der Hunger vergangen. "Rayen Torrens." Der Name spukte durch sein Gedächtnis, und er versuchte ihn einzuordnen. Und je mehr er nachdachte, desto bekannter kam ihm der Name vor. "Torrens … Rayen Torrens." Plötzlich weiteten sich seine Pupillen, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Rayen Torrens war einer seiner Schüler an der Highschool gewesen. Ein junger Mexikaner, der aber die Schule hingeschmissen hatte. Mr. Kittels Magen begann sich zu verkrampfen. Rayen hatte die Schule wegen ihm hingeschmissen! Ruckartig erhob er sich und ging zur Kommode hinüber. Er riss eine Schublade auf und nahm einen dicken Ordner heraus, auf dessen Rückseite handgeschrieben ‹P – Z› stand. Er schlug ihn auf, und der Geruch von altem Papier stieg ihm in die Nase. Während er zum Buchstaben T weiterblätterte, fing sein Herz laut an zu pochen. Da war er. Rayen Torrens. Der Name stand in krakeliger Schrift auf mindestens fünfzig Seiten. Alles Prüfungen und Vorträge. Die erste Seite war allerdings ein Brief. Mr. Kittel nahm seine Lesebrille aus der Hemdtasche und fing an zu lesen.
28. Juli 1992
Sehr geehrter Mr. Kittel
Morgen ist es soweit, die Highschool ist zu Ende für mich. Ich werde wieder nach Hause zurückkehren und etwas völlig Neues versuchen müssen. Doch bevor ich gehe, will ich noch einige Dinge klarstellen. Was in den letzten Monaten geschehen ist, hat mich sehr getroffen. Bei allem Respekt muss ich Ihnen sagen, dass Sie mich nie gleich behandelt haben wie die anderen Schüler. Abgesehen davon, dass ich von Ihnen immer verhöhnt und verspottet wurde, hatten Sie an meinen Prüfungen jedes Mal etwas auszusetzen. Ständig wurde ich strenger bewertet als meine Mitschüler. Doch das Schlimmste war, als sie anfingen, meine Familie und mich zu beleidigen. Dass ich es daraufhin nicht mehr aushielt und handgreiflich wurde, bereue ich. Mein darauf folgender Rauswurf war meines Erachtens unfair, da ich von Ihnen dauernd provoziert worden war. Doch eines Tages werden Sie sehen, dass ich es trotzdem zu etwas gebracht habe!
Sie können mich mal!
Rayen Torrens
Mr. Kittel las den Brief zwei-, dreimal durch, und sein Gesicht wurde bleich. Rayen Torrens! Jetzt kam die Erinnerung langsam, Stück für Stück, zurück. Torrens hatte ihm ins Gesicht geschlagen, nachdem er über dessen Familie hergezogen war. Ein blauer Fleck und eine aufgesprungene Lippe hatten gereicht, um Rayen von der Schule zu verweisen. Mr. Kittel fasste sich an den Kopf. Mein Gott. Rayen Torrens! Diese Geschichte färbte sein Gewissen tiefschwarz. Wieso hatte er wohl gerade angerufen? Vielleicht wusste Rayen, dass er keine Verwandten hatte, die ihn besuchen würden, und wollte ihn an seiner empfindlichsten Stelle treffen. Oder war das Ganze am Ende ein Scherz? Am Brief war mit einer Büroklammer noch ein Foto befestigt. Ein Junge mit zusammengebundenen schwarzen Haaren und braun gebrannter Haut. Demonstrativ streckte er dem Betrachter die Zunge entgegen.
Als Lehrer war Mr. Kittel manchmal wirklich grausam gewesen. Früher hatte ihn das nicht gestört, aber jetzt … Mit dem Alter wurde man wahrlich weiser und einsichtiger. Da er nicht wusste, was er jetzt tun sollte, setzte er sich wieder in den Sessel und schaltete den Fernseher ein. Der Sender zeigte gerade eine Wiederholung der letzten Fussballmeisterschaftsspiele. "Und hier sehen Sie El Gusvenso, den absoluten Topscorer der Liga!", rief der Sprecher begeistert. "Laut Medien soll er bereits Angebote von lukrativen europäischen Teams bekommen haben." Mr. Kittel schaltete genervt aus. Für Fussball hatte er nie viel übrig gehabt. Er griff nach der Tasse. Der Tee war schon kalt geworden, dennoch trank er einen grossen Schluck. Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster. Der Schneefall war viel stärker geworden, und die Schneeflocken wirbelten im schwachen Schein der Strassenlaternen verträumt umher. Der Klang der Türglocke liess Mr. Kittel zusammenfahren. "Bestimmt wieder Sternensinger", dachte er entnervt und riss die Tür auf. Vor ihm stand ein grosser, kräftiger Mann mit einer langen Haarmähne. Seine Augen blitzten ihn entschlossen an, und trotz seiner dünnen Windjacke schien er nicht zu frieren. "Guten Abend, Mr. Kittel", sagte der Mann. "Ich habe vorhin angerufen." In diesem Moment explodierten tausend Gedanken in Mr. Kittels Gehirn. "Rayen Torrens", schoss es ihm durch den Kopf. "Bestimmt will er sich an mir rächen! Deshalb hat er auch angerufen, um zu sehen, ob ich zu Hause bin." Mr. Kittel wollte die Tür gerade wieder zuschlagen, doch Rayen hielt den Fuss in den Türrahmen und drückte sie mühelos auf. Mr. Kittel hastete zurück in die Wohnung und blickte sich panisch um. Rayen schloss die Tür hinter sich und schritt auf Mr. Kittel zu. Er lächelte triumphierend. Mr. Kittel versuchte ans Telefon zu kommen, doch Rayen schnitt ihm den Weg ab. Mr. Kittel konnte nicht fliehen! Niemand würde etwas mitbekommen! Alle seine Nachbarn waren verreist, und es konnte Tage dauern, bis sich jemand um ihn Sorgen machte. Mr. Kittel atmete schnell und flach. Er wich immer weiter zurück und stürzte schliesslich über das kleine Fernsehtischchen. Die Tasse fiel zu Boden und zersprang, ebenso der Teller. Mr. Kittel landete hart auf dem Rücken und ihm blieb für einen Moment die Luft weg. "Jetzt ist es aus", dachte er, als Rayen mit der Hand nach ihm ausholte. Jetzt würde er für das bezahlen, was er ihm angetan hatte. Mr. Kittel schloss die Augen. Gleich würde der Schmerz kommen. Doch plötzlich sagte Rayen mit liebevoller Stimme: "Sir, alles in Ordnung?"
Mr. Kittel öffnete verblüfft die Augen und bemerkte, dass Rayen ihm die Hand zum Aufstehen hinhielt. "Haben Sie sich wehgetan?" Völlig überrascht ergriff Mr. Kittel Rayens Hand und liess sich von ihm auf die Beine ziehen.
"Du … du wolltest mich nicht schlagen?", fragte er. Rayen lachte. "Wieso um Himmels willen sollte ich das tun?" "Ich hab dir die Schulzeit zur Hölle gemacht!" Rayen musterte Mr. Kittel freundlich. "Diese Zeiten sind doch längst vorbei. Aber ich schlage vor, ich erzähle Ihnen die ganze Geschichte!" Mr. Kittel nickte, immer noch etwas verstört. Er bat Rayen, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und machte für beide einen starken Tee. Als er Rayen die Tasse gab, begann dieser zu berichten. "Nachdem ich von der Highschool geflogen war, bewarb ich mich für eine Sportschule und wurde prompt angenommen. Fussballspielen war mein ganzes Leben, meine grosse Leidenschaft. Und ich konnte es letztendlich zu meinem Beruf machen." Mr. Kittel sog schnell Luft ein, als Rayens Gesicht in seiner Erinnerung aufblitzte, und er es wiedererkannte. "Du bist El Gus venso, das Supertalent! Mein Gott, du bist der beste Fussballer im ganzen Land! Du hast es ja richtig weit gebracht!" Rayen blickte ihm tief in die Augen. "Habe ich Ihnen das nicht versprochen?" Mr. Kittels Gesicht schien zu bröckeln. "Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Es tut mir wirklich leid, was passiert ist, Rayen. Mir ist klar, dass ich damit mein schreckliches Verhalten nicht ungeschehen machen kann. Aber ich hoffe, du kannst über die Fehler eines alten dummen Mannes hinwegsehen." Rayen klopfte ihm auf die Schulter, sodass Mr. Kittel beinahe seine zweite Tasse hätte fallen lassen. "Ich habe schon vor langer Zeit gelernt zu vergeben. Auch ich war nicht gerade ein Musterschüler. Heute Abend bin ich hierher gekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht, und um mit der Vergangenheit abzuschliessen."
"Deshalb hast du vorhin bei mir angerufen, um zu sehen, ob ich zu Hause bin", folgerte Mr. Kittel. Rayen nickte.
Die beiden redeten noch bis tief in die Nacht von alten Zeiten, lachten und tranken Mr. Kittels gesamten Teevorrat leer. Als die Kirchturmuhr Mitternacht, und damit den Heiligabend einläutete, verabschiedete sich Rayen Torrens. Als sie an der Tür standen und sich die Hand schüttelten, blickte Mr. Kittel Rayen mit trüben Augen an. "Es tut mir leid, dass ich dir dein Leben so schwer gemacht habe." Und Rayen antwortete: "Kein Problem, Sir. Und frohe Weihnachten!" Dann lief er davon, in die kalte Nacht hinaus.
Es war nicht das letzte Mal, dass Rayen Mr. Kittel besuchte. Genauer gesagt, war Mr. Kittel am Vorweihnachtsabend nie mehr allein.
*Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie des Autors.
Der Text ist der folgenden Publikation entnommen: Die Basler Eule (Hrsg.): Sprach: kein Problem – und lief davon. Geschichten von Jugendlichen, Christoph Merian Verlag, Basel 2009, 134 Seiten; 11 x 18 cm, broschiert, deutsch, SFr. 16.80 / Euro 10.00, ISBN 978-3-85616-405-8; www.merianverlag.ch; www.baslereule.ch;