Reisen gegen die Armut? – Nicht weiter frei zu Tisch!
Basel, 28.07.2008, akte/ Die Brotrevolte erschütterte Ägypten just zu dem Zeitpunkt, als die Regierung neue Rekordergebnisse aus dem Tourismus vermeldete: 11,1 Millionen ausländische Gäste haben im vergangenen Jahr Ägypten besucht, ein satter Zuwachs von 22 Prozent aufs Vorjahr. Sie brachten total 9,4 Millionen US Dollar Einnahmen, das sind rund 20 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes. Der Tourismus macht heute 11,3 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus und zieht 19,3 Prozent der Investitionen aus dem Ausland an – dank grosszügigen Investitionserleichterungen für die Anleger, wie der staatliche Informationsdienst State Information Service, auf seiner Homepage zusichert. Grossartig sind denn auch die Ausbaupläne der Regierung mit 240’000 neuen Zimmern bis 2011 und neuen Luxusresorts. Mehr noch: ganze neue Tourismus-Städte sollen aus dem Boden gestampft werden. Gleichzeitig startet die staatliche Tourismuswerbung eine Grossoffensive in arabischen und europäischen Entsendemärkten, insbesondere auch Russland, das 2007 mit 1,5 Millionen am meisten Gäste geschickt hat. Doch auch 100’000 SchweizerInnen fliegen jährlich ins Land am Nil und lassen es sich in den neuen "Verwöhnoasen" gut gehen, die neuerdings immer öfter auch mit Golfplätzen bestückt sind.
Vergebliches Warten auf den "Trickle Down"
Derweil warten die Menschen am Nil darauf, dass der Reichtum nach unten sickert. Immer verzweifelter, denn die Preise für viele Grundnahrungsmittel sind seit Anfang Jahr bis zu 50 Prozent gestiegen. 40 Prozent der 78 Millionen ÄgypterInnen leben unter oder an der Armutsgrenze und haben täglich einen Dollar oder weniger zur Verfügung. Das reicht nicht mehr zum Überleben. Als im vergangenen Frühjahr wegen zunehmender Korruption auch das staatlich subventionierte Brot knapp wurde, kam es zum Aufstand. Es war die erste Brotrevolte in Ägypten seit 30 Jahren. Ägypten ist indes kein Einzelfall. Innert weniger Wochen erlebten an die 40 Länder weltweit Hungeraufstände.
Verhängnisvolle Verkettung von Fehlentwicklungen
Hungerrevolten in diesem Ausmass sind neu und vielleicht erst der Anfang von noch breiteren Aufständen. Sie machen, wie Entwicklungsexperte Peter Niggli, Geschäftsleiter der Alliance Sud, sagt, "den Regierungen der Entwicklungsländer und der Öffentlichkeit der satten Länder bewusst, wie untragbar es ist, dass nach wie vor mindestens zwei Milliarden Menschen von weniger oder etwas mehr als einem Dollar pro Tag leben müssen. Diese Menschen können sich keinerlei Preissteigerungen leisten. Weil sie den grössten Teil ihrer knappen Mittel für den Kauf von Nahrungsmitteln aufbringen müssen. Weil ihre Einkommen nirgends hinreichen. Weil jede Preisbewegung, sogar eine volkswirtschaftlich nützliche, ihr physisches Überleben gefährdet."
Für die akute Hungersnot sind auch nicht einfach die steigenden Preise für Lebensmittel verantwortlich. Diese Entwicklung ist angesichts der seit Jahren zerfallenden Preise für Agrarprodukte eher zu begrüssen. Schuld sind ebensowenig die Millionen von Menschen in den Schwellenländern Asiens, die sich heute mehr Essen leisten können – dies wurde ja noch vor kurzem als Entwicklungserfolg gewertet.
Die Hungerkrise ist vielmehr auf eine weltweit immer ähnlich verlaufende Verkettung von meist längst bekannten und von Entwicklungsfachleuten angeprangerten Fehlentwicklungen zurückzuführen: Eine forcierte Exportorientierung der Wirtschaft nach den Rezepten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Diese ist besonders verhängnisvoll in der Landwirtschaft, wo die Subsistenzwirtschaft von der Exportproduktion verdrängt wird, die Kleinbauern das Nachsehen haben und oft in urbane Zentren abwandern, wo sie sich die Lebensmittel kaufen müssen und bei Preissteigerungen nicht mehr leisten können. Die Nahrungsmittelproduktion wird weiter konkurrenziert durch den Anbau von Agrotreibstoffen, der angesichts der weltweiten Verknappung der Erdölreserven und der steigenden Ölpreise heftig angekurbelt wird. Dazu kommt die Spekulation auf Grundnahrungsmitteln wie Getreide, denen sich die Börse in der Finanzkrise nach dem Immobiliencrash in den USA verstärkt zugewandt hat. Problematisch ist zudem der extrem verschwenderische Umgang mit Wasser in der Nahrungsmittelproduktion, wobei die westlichen Konsumvorlieben besonders gravierend zu Buche schlagen: So erfordert die Produktion eines Kilos Rindfleisch laut dem Wasserforschungsinstitut der ETH (Eawag) 13’510 Liter Wasser, während für ein Kilo Getreide etwa ein Zehntel dieser Menge reicht.
Die Auswirkungen dieser verschiedenen Fehlentwicklungen werden heute drastisch verschärft durch den – ebenfalls von Menschen verursachten – Klimawandel: Dürre, Wasserknappheit, aber auch Überschwemmungskatastrophen führen zu Ernteausfällen und gefährden auch unmittelbar die lokale Versorgung.
… und Tourismus ist Teil davon
Auch der internationale Tourismus wird im Rahmen der wirtschaftlichen Exportorientierung gefördert, um Devisen zu erwirtschaften. Die immer grösser konzipierten Touristenresorts mit Golfplätzen und Marina beanspruchen wertvolles Ackerland und Küstenbereiche, wo den einheimischen Fischern der Zugang verwehrt wird. Für die Bewässerung eines 18-Loch-Golfplatzes werden täglich 2,3 Millionen Liter Wasser benötigt. Damit könnten auf den Philippinen zum Beispiel 60’000 DorfbewohnerInnen im Haushalt versorgt werden. In einem Hotel mit Swimmingpool und Garten beläuft sich der Wasserkonsum auf 600 – 800 Liter pro Gast pro Tag, weit mehr als die 150 – 200 Liter durchschnittlicher Tageskonsum in den Industrieländern. In den Ländern südlich der Sahara gelten 20 Liter pro Kopf als Durchschnittwert. Der Tourismus führt in den meisten Ferienorten zu Grundstücksspekulation und der Teuerung der Lebenshaltungskosten der Einheimischen. Zudem bringen die fremden Gäste westliche Konsummuster mit sich, die gerne übernommen werden. Und der Tourismus trägt zum Klimawandel bei – in erster Linie durch Mobilität und Flugreisen, aber auch durch Energieverschleiss, etwa in den klimatisierten Hotels.
Zündstoff für die Branche
"We have had a free lunch so far", bekennt Anna Pollack, die Managerin der britischen Tourismusberatungsfirma DestiCorp freimütig am Gipfel der Pacific Asia Travel Association (PATA) im April 2008. "Wir waren bislang frei zu Tisch. Die Industrie hat weder angemessen für das Wasser bezahlt, das sie auf Golfplätzen nutzt, noch für die Schadstoffemissionen in der Luft, noch für die einmaligen kulturellen und natürlichen Attraktionen der Touristen."
Es war bisher eine der wenigen Stellungnahmen aus der Tourismusbranche zur akuten Hungersnot. Der opulente Luxus für Feriengäste birgt allerdings gerade in den Tourismusdestinationen, wo die Menschen auf der Strasse gegen Preissteigerungen und Hunger revoltieren, explosiven Zündstoff, der dringliches Handeln seitens der Tourismusverantwortlichen erfordern würde.
Die UN-Welttourismusorganisation (UNWTO) hat sich den Kampf gegen Klimawandel und gegen Armut auf die Fahnen geschrieben. In ihrem jüngst veröffentlichten Bericht schlägt sie der Branche konkrete Massnahmen gegen Klimawandel vor. Trotz aller Beteuerungen, wie dringend Handeln sei, übt sie sich dabei aber weiter in Beschönigung, indem sie die CO2-Emissionen des Flugverkehrs mit dem Rechner des Luftfahrtdachverbandes IATA misst und viel zu niedrig veranschlagt. Und sie setzt weiter auf Wachstum. Denn ihr schlagendes Argument für den Tourismus als Mittel zur Bekämpfung der Armut sind die Wachstumszahlen: Zwischen 1990 und 2007 hat der Tourismus in den Industrieländern um durchschnittlich 3 Prozent pro Jahr zugelegt, in den Entwicklungsländern hingegen um stolze 7 Prozent. Das mache den Tourismus zu einem erstklassigen Wachstumsmotor für Volkswirtschaften und zur Schlüsselbranche für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Bis zum Jahr 2015 will die UNWTO im Rahmen ihre Armutsprogrammes "Sustainable Tourism – Eliminating Poverty" (ST-EP) 57 Ländern helfen, die Milleniumsziele zu erreichen. Dafür unterstützt sie Tourismusprojekte mit Management- und Marketing-Ausbildungen sowie mit Projektplanungen – dies möglichst in armen abgelegenen Gebieten, die reiche Natur- und Kulturattraktionen aufzuweisen haben.
Neu hat sie eben auch ein Programm in Ägypten angekündigt, das dank Entwicklungsgeldern aus Spanien realisiert werden soll. Da werden also ein paar Leute in Ägypten neue Jobs erhalten, während die anderen weiter darauf warten, dass etwas vom neuen Segen zu ihnen durchsickert, und alle zusammen die Folgen des neuen sowie des bestehenden Tourismus auszubaden haben.
Nicht weiter frei zu Tisch!
Es wird nicht mehr vom selben, sondern einen anderen Tourismus brauchen, damit dieser mächtige Wirtschaftszweig seinen Beitrag zur Überwindung der weltweiten Armut und zur Erreichung der Milleniumsziele leisten kann.
Die akute Hungerkrise macht deutlich: Auch der Tourismus wird sich letztlich daran messen müssen, wie er zur Ernährungssicherheit weltweit und insbesondere auch der BewohnerInnen der Zielgebiete beiträgt. Wie sieht die Landnutzung aus? Und die Verteilung des kostbaren Wassers? Wieviel für den Tourismus zu welchen Bedingungen? Hilft der Tourismus den ansässigen Bauern- und Fischerfamilien, Handwerksbetrieben und Kleinunternehmen, ihre Einkommen zu verbessern? Wie muss der Tourismus gehandhabt werden, damit die verhängnisvollen Land- und Immobilienspekulationen vermieden werden können und die Lebenshaltungskosten der Einheimischen nicht laufend schneller ansteigen als die Verdienste aus dem Tourismus? Wie kann sicher gestellt werden, dass der Ertrag aus dem Tourismus effektiv der breiten Bevölkerung zu Gute kommt? Wie müssen sich die Gemeinschaften, die Tourismus anbieten, dafür organisieren? Wie können sie ihre kulturelle und natürliche Vielfalt in Wert setzen, ohne dass es zum "Ausverkauf" und zur Zerstörung von Natur und Kultur kommt? Wieviele TouristInnen sind nötig, damit die Einheimischen ihren Lebensstandard verbessern können? Und wieviele erträgt’s?
Die Tourismusberatungs-Managerin Anna Pollack hat Recht, wenn sie angesichts der Hungeraufstände in Tourismusdestinationen eindringlich die Preisfrage stellt. Die Tourismusverantwortlichen aus Branche und Politik, aber auch die Reisenden nehmen es als selbstverständlich hin, am Tisch der Einheimischen eingeladen zu sein und dabei für vieles frei gehalten zu werden. Und das auch noch selber bestimmen zu können, schliesslich sind sie ja die Gäste. Weit entfernt von einem fairen Austausch, bei dem die Partner ihre jeweiligen Bedürfnisse gleichermassen respektieren und erbrachte Leistungen zu einem fairen Preis abgegolten werden.
Allein dieser Gedanke dürfte die Branche zum Aufjaulen bringen, befürchtet sie heute doch schon einen gewaltigen Einbruch der Tourismusgeschäfte aufgrund der hohen Treibstoffpreise und der sich mit der Finanzkrise abzeichnenden Rezession. Es ist allerdings gut möglich, dass die Reisegeschäfte noch viel schneller und radikaler einbrechen, weil keine kostendeckenden fairen Preise bezahlt werden. Weil Naturkatastrophen als Folge des Klimawandels und Hungerrevolten aufgrund des weltweit spekulativen und verschwenderischen Umgangs mit kostbaren natürlichen Ressourcen und Grundnahrungsmitteln die touristische Vergnügungsreise vielerorts unmöglich machen.
Quellen: Global-Alliance Sud, Sommer 2008; www.eturbonews.com 17.07.2008; 26.04.2008; Fremdenverkehrswirtschaft 04.07.2008, 12.03.2008; Schweizer Touristik Sonderheft 11.06.2008; Tages Anzeiger 04.06.2008, 05.04.2008; Le Monde Diplomatique Mai 2008; AFP 30.04.2008; NZZ 28.04.2008; SonntagsZeitung 27.04.2008; http://touregypt.net; UNWTO News 1/2008, World Tourism Barometer, October 2007, www.unwto.org
Bilder: KabaniKerala; Barbara Schachenmann