Restart Tourism: Auf dass es nachher besser wird als vorher
Der Tourismus hat die Verbreitung des Coronavirus massgeblich beschleunigt. Die Coronakrise ihrerseits hat den Tourismussektor mit voller Wucht getroffen. Viele Unternehmen fürchten um ihre Existenz und entlassen Mitarbeitende. Das betrifft insbesondere KMU, die nicht die Möglichkeit hatten, Notreserven anzulegen, sowie Angestellte in prekären Arbeitsverhältnissen, wie sie in der Gastronomie und Hotellerie allzu häufig sind. Besonders schlimm ist der Einbruch für touristische KleinstunternehmerInnen im globalen Süden, sie verlieren häufig ihre Einkunft, ihre Unterkunft und ihr soziales Netz gleichzeitig.
Dass der Tourismus ein volatiles Geschäft ist, ist eine schmerzhafte Erfahrung, die immer wieder gemacht wird. Destinationen sind mal in und dann wieder out. Terroranschläge, Vulkanausbrüche und Wetterextreme haben schon früher den Sektor in ganzen Regionen lahmgelegt. Doch Corona ist anders. Die Pandemie trifft global und zeigt die Verletzlichkeit des ganzen Wirtschaftszweigs. Das System "schnelles Wachstum durch Billigpreise" schlingert. Der Teufelskreis von immer mehr, schneller, weiter, billiger ist zum Stillstand gekommen – und wir möchten nicht dorthin zurück.
Das müssen wir auch nicht. Die Coronakrise zeigt, was besser funktioniert. Buchen im Reisebüro bringt mehr Sicherheit und bessere Begleitung als die Schnäppchenjagd auf anonymen Online-Plattformen. Reisebüros haben jetzt die Chance, mit einem qualitativ hochstehenden Service zu punkten und diesen in Wert zu setzen. Dazu gehört auch das Wissen über nachhaltige Produkte. Starke regionale Wirtschaftskreisläufe, klug ergänzt mit einem lokal gut eingepassten Tourismus, sind resilienter als touristische Monokulturen. Daheimbleiben, mehr Zeit haben und die Nachbarschaft erkunden, hat mitunter einen besseren Erholungseffekt als die Zehn-Tage-Tour am anderen Ende der Welt. Und führt zu einem grösseren Engagement für die Lebensqualität zu Hause, inklusive der Solidarität mit Menschen rund um uns, die mit schwierigeren Lebensbedingungen zu kämpfen haben. Pendelstress und Geschäftsreisen können reduziert werden durch Online-Meetings und Homeoffice.
Was jetzt geschehen muss, damit diese Lernerkenntnisse zum Tragen kommen:
1. Luft verschaffen – Druck wegnehmen: Der Druck auf touristische Unternehmen und Regionen, so rasch wie möglich zum “Business as usual” zurückzukehren, ist hoch. Das zeigt sich an Kampagnen wie “Dream now – travel later” oder “Die Berge warten – wir auch”. Es gilt jetzt Instrumente zu finden, die wirtschaftlichen Druck auf Unternehmen und Angestellte wegnehmen. Zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert durch eine Digitalsteuer (auch auf Buchungsplattformen) oder eine Finanztransaktionssteuer. Oder warum nicht eine globale Kurtaxe einführen? Das verschafft Luft für eine neue Ausrichtung dieses Wirtschaftszweigs, der nur über einen grundlegen Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen kann.
2. Lokalbevölkerung einbinden: Stärker als jede andere Branche nutzt der Tourismus die Gemeingüter öffentlicher Raum und natürliche Ressourcen. Deshalb braucht es neue Strategien, entwickelt in enger Zusammenarbeit mit bisher zu wenig berücksichtigten Anspruchsgruppen (Natur- und Heimatschutz- und Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften…). Dabei gilt es auch zu klären, welcher Tourismus wem dient. Was hat die Lokalbevölkerung von touristischen Megaprojekten wie Flughafenstätten und Kreuzfahrtschiffen, internationalen Hotelketten und Tour Operator? Woher kommt das Geld, das investiert wird? Wer verdient wie viel daran? Wohin fliessen die Gewinne und wo werden wie viel Steuern bezahlt? Wer kommt für die sozialen und die Umweltkosten auf? Führt der coronabedingte Konkurs vieler KMU zu ungesunden Monopolen?
3. Strategien ohne Wachstumszwang entwickeln: Kaum ein Land, kaum eine Destination spricht nicht davon, "nachhaltigen Tourismus" zu pflegen. Nachhaltig würde aber heissen, im Einklang mit den Pariser Klimazielen, mit den Globalen Entwicklungszielen (Agenda 2030) und den Menschenrechten. Das verträgt sich nicht mit dem Dauerwachstum, sondern ruft nach einer Qualitätsoffensive: Besseren Schutz der natürlichen Ressourcen, mehr Lebensqualität für die Lokalbevölkerung, mehr gute und sichere Arbeitsplätze im Tourismus, mehr Erlebnisqualität für die Reisenden – auch durch einen engeren Austausch mit der Lokalbevölkerung – und mehr wirtschaftliche Stabilität für die Region. Bisherige Strategien ignorieren den Widerspruch von Nachhaltigkeit und Dauerwachstum.
4. Kohärent umsetzen: Zu einer kohärenten Umsetzung einer nachhaltigen Tourismusstrategie gehört die Ermittlung und Berücksichtigung der Tragfähigkeit einer Destination (carrying capacity): Wie viele Touristinnen und Touristen verträgt eine Region maximal, ohne dass Umwelt, soziales Gefüge oder Kultur Schaden nehmen? Danach gilt es, nachhaltige Urlaubs- und Freizeitmodelle in der Nähe zu fördern und Subventionen für Tourismusformen, die einer nachhaltigen Entwicklung im Weg stehen, zurückzufahren. Das heisst: keine 40-Millionen-Kampagne von Schweiz Tourismus in weit entfernten Ländern (für KurzbesucherInnen, die wenig Wertschöpfung und viel CO2 generieren) und keine versteckten und direkten Subventionen der Billigfliegerei. Stattdessen investieren in die Weiterbildung für die qualifizierte Beratung in Reisebüros und die nachhaltige Entwicklung von Destinationen. Mit 40 Millionen liesse sich hierfür schon einiges tun. All jenen Unternehmen, die während der Coronakrise von der öffentlichen Hand grosszügig unterstützt wurden, ist eine nachhaltige Entwicklung in den Recovery-Plan zu schreiben: Klimaschutz, Energieeffizienz, Abfallminimierung, Biodiversität, umweltschonende Mobilität, faire Arbeitsbedingungen, regionale Kreisläufe, Chancengleichheit, usw. Dies gilt speziell für Airlines und Flughäfen. Sie müssen endlich externe Kosten insbesondere für ihren Treibhausgasausstoss internalisieren und reale Preise inkl. CO2-Abgabe erheben.
Vom Bundesrat bis zur Privatperson üben sich zurzeit alle an der Überwindung von Krisen. Menschen engagieren sich in solidarischen Initiativen und akzeptieren Einschränkungen zugunsten der Gemeinschaft. Forschende und Unternehmen werden innovativ. Sind wir einmal mit der Coronapandemie klargekommen, können wir mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein erprobter KrisenmanagerInnen die nächsten Herausforderungen angehen: Klimanotstand, schwelende Konflikte aufgrund der sozialen Ungleichheit, rasantes Schrumpfen der Artenvielfalt – der Umgang mit ihnen wird auch für einen zukunftsfähigen Tourismus entscheidend sein.
* Nathalie Martin, langsamreisende Bloggerin; Hansruedi Müller, Universität Bern; Christine Plüss, Historikerin und ehem. Geschäftsführerin von akte; Sivaraj Thekkayil, Corinne Karlaganis und Loucine Maugère von Uravu Eco Links (Kerala, Indien)