Wer immer heute durch den Gotthard braust, den überkommt im Urnerland leicht ein beklemmend’ Gefühl der Enge, Grauen vor Lawinen, Erdrutschen, Tunnels und Stau, vielleicht Mitleid oder gar schlechtes Gewissen gegenüber den BewohnerInnen, die mit dem Transitverkehr Gestank – in hohem Masse Schadstoffe sowie krebserregenden Feinstaub – und nervenzermürbenden Lärm zu ertragen haben. Dabei riskiert man völlig zu verpassen, was der Kanton Uri und das Gotthardmassiv den BesucherInnen zu bieten haben: Auf kleinstem Raum eine grandiose Vielfalt an Kulturlandschaften, die sich durch die alpine Lage und Abgeschiedenheit, aber auch den Jahrhunderte langen Alpentransit herausgeformt haben, und an Naturschauspielen, Bergmassiven, Gletschern, Gesteinsformationen, wertvollen Biotopen und Hochmooren. In Uri liegt eine der bedeutendsten Wasserscheiden Europas mit den Quellen von Rhein und Reuss als Zufluss des Rheins in den Antlantik sowie der Rhone ins Mittelmeer und – nur unweit der Kantonsgrenze – dem Ticino als Zufluss des Po in die Adria. Durch Uri führt spätestens seit dem Mittelalter eine der wichtigsten Alpenüberquerungen Europas. Uri ist vor allem aber auch einer der drei Urkantone der Eidgenossenschaft, Heimstätte des Willhelm Tell und manch anderer Mythen und Legenden der Schweiz.
Auf Entdeckungsreise in diese interessante Region lädt jetzt Reto Solèr, gebürtiger Bündner und langjähriger Aktivist für eine nachhaltige Entwicklung in den Alpen, unter anderem als Mitinitiator der des Modellprojektes „Wasserwelten Göschenen“ und als Geschäftsführer der Schweizer Sektion der Alpenschutzkommission CIPRA. Mit 22 Wandervorschlägen führt er kreuz und quer über Berg und Tal rund um den kleinen Kanton. Alle Wanderungen sind – wie gewohnt in den Wanderführern des Rotpunktverlages – liebevoll im Detail erkundet und beschrieben nach Anforderungen, so dass auch mehr oder weniger berggängige und schwindelfreie ihre Wahl treffen können und ohne Frust auf ihre Kosten kommen. Praktisch alle Touren sind zudem so konzipiert, dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder alpinen Rufbussen und -taxis machbar sind.
Darüber hinaus bietet Reto Solèr spannende Exkursionen in die bewegte Geschichte des Urnerlandes – von der Mythenbildung um das Rütli und Willhelm Tell über die Problematik und Chancen der Transitachse bis zur Öffnung der Alpeninitiative und der Verlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene und neuerdings den hochfliegenden touristischen Perspektiven des ägyptischen Investors Samih Sawiris für das serbelnde Andermatt. Das gibt einen guten Einblick ins Urnerland und darüber hinaus der gesamten alpinen Regionen vor den Herausforderungen der Globalisierung. Querverweise und Wiederholungen stellen sicher, dass man auch auf den Wanderpfaden nichts davon verpasst. Das Buch – rechtzeitig zum 125. Jubiläum des Gotthardbahntunnels aufgelegt – macht so richtig Lust, in Zeiten der Globalisierung zu neuen Wanderungen aufzubrechen.

Reto Solèr: Uri – Gotthard. Vom Mythos zur Moderne: 22 Wanderungen in der Urschweiz. Rotpunktverlag Zürich, 2007, 292 Seiten, SFr. 42.-, Euro 26.-, ISBN 978-3-85869-348-8