Rolf Thalmann: So nicht! Umstrittene Plakate in der Schweiz 1883 – 2009
Basel, 26.01.2010, akte/ 1973 warb ein Reiseveranstalter mit einem Globus in Form eines knackigen Apfels für Ferienparadiese."Mögen sich die PR-Leute nichts Böses dabei gedacht haben, dieser Apfel ist eine Gedankenlosigkeit, die an Geschmacklosigkeit grenzt", schrieb Regula Renschler, Initiantin des arbeitskreises tourismus & entwicklung, in einem Leserbrief an die Nationalzeitung. Immerhin gehörten die angepriesenen Paradiese zu den ärmsten Regionen der Welt. Dieses und weitere Beispiele für Anstoss erregende Plakate und die entsprechenden Reaktionen hat Rolf Thalmann in seinem Buch "So nicht!", erschienen im hier+jetzt-Verlag, zusammengestellt.
Thalmann leitete von 1982 bis 2009 die Basler Plakatsammlung. Schon seit seinem Start dort trug er Zeitungsausschnitte, Gesprächsnotizen und Fotokopien über die Wirkung von Plakaten auf ihre EmpfängerInnen zusammen. Eine Auswahl von über 400 umstrittenen Affichen sind im Buch "So nicht!" dokumentiert. Dafür sammelte der Autor behördliche Äusserungen zu Plakaten, recherchierte Leserbriefe und führte Korrespondenzen mit deren Werbenden. Selbstverständlich sind die bekannten Benetton-Anzeigen mit dem Bild eines sterbenden AIDS-Kranken ebenso zu finden wie die letzten SVP-Plakate, die Stimmung für die Minarett-Initiative machten. Doch anders als in vielen Plakat-Publikationen stehen nicht die Gestaltung und das Thema der Provokation in der Werbung im Vordergrund. Vielmehr fragen Thalmann und seine Co-AutorInnen Benjamin Herzog, Krystyna Kuczinski und Martin Zingg nach moralischen, ästhetischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen für empörte Reaktionen.
Dass diese Gründe sich über die Zeit verschieben, dass das Verständnis von Sitte und Anstand sich wandelt, zeigen die Beispiele in Thalmanns Buch: Vor 80 Jahren galt etwa eine kaum bekleidete Frau als anstössig. Die "Ehre der Frau" und "echtes Frauentum" wurden hochgehalten – oft von der Kirche. Heute kann Nacktheit zwar kaum mehr schockieren, wohl aber kritisieren Feministinnen die sexistische Art und Weise, in der aufreizend posierende Frauen als Projektionsfläche für alle möglichen Produkte herhalten müssen. So warben die PTT mit dem Slogan: "Die Post bringt Ferienkataloge" und zeigte dazu einen Postboten mit einer exotischen Frau unter dem Arm. Organisationen, darunter auch der arbeitskreis tourismus & entwicklung (akte) und Einzelpersonen beschwerten sich bei den PTT, weil das Sujet suggeriere, dass man Frauen aus Drittweltländern bestellen könne. Weitere Beispiele zeigen, dass Plakate mit homosexuellen Inhalten – etwa im Rahmen der Stop AIDS-Kampagne – auch in scheinbar aufgeklärten Zeiten die Hüter des Anstands auf den Plan rufen.
Politisch motivierte Einwände verursachten bis 1990 vor allem Plakate vom linken Spektrum. Für Abtreibungsbefürworter und Kommunisten hagelte es Plakatierungsverbote. Seit 1994 führt die SVP mit immer drastischeren Provokationen die öffentliche Debatte um politische Plakate an. Wie Thalmann zeigt, bildete sich die Vorliebe für die Darstellung von Ratten als Sinnbild für die jeweiligen Gegner offensichtlich schon vor knapp 90 Jahren heraus. Am Beispiel des Plakats für die Ausschaffung krimineller Ausländer, das mit weissen Schafen illustriert war, die ein schwarzes Schaf aus ihren Reihen kicken, zeigt sich, dass die polarisierenden Diskussionen zum Teil den sachlichen Wahlkampf ersetzen und das Abstimmungsergebnis nicht unwesentlich beeinflussen.
"So nicht!" bietet eine umfangreiche und schlüssig sortierte Zeitreise durch das Schweizer Plakatschaffen seit Ende des 19. Jahrhunderts: Der Theorieteil fasst anschaulich beschriebene Beispiele für empörende Plakate zusammen und beschreibt die Verordnungspraxis einzelner Kantone. Im Schlusskapitel kann man sich der Reihe nach in die besprochenen Plakate vertiefen. Provokation, so beweist das Buch, ist in unserer von Bildern überfluteten Welt oft mindestens so wichtig wie die Information selbst. Doch Kulturpessimisten können aufatmen, denn das Buch zeigt auch, dass diese Tendenz keine neue Erfindung ist. Oder, wie Rolf Thalmann die versammelten Aufreger charakterisiert: "Plakate, die – auf welchem Gebiet auch immer – an Grenzen stossen, deuten an, wo diese sich im Moment befinden." Ein wunderbares Stück Schweizer Kulturgeschichte.
Rolf Thalmann: So nicht! Umstrittene Plakate in der Schweiz 1883 – 2009, hier+jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden, 2009, 256 Seiten, SFr. 58.-, Euro 36.80, ISBN 978-3039191307