Russell King et al: Atlas der menschlichen Migration. Globale Muster von umherziehenden Menschen
Basel, 14.02.2010/ Bei einer Strassenumfrage nach dem Anteil von Migranten an der Weltbevölkerung würden die meisten wohl in ihren Schätzungen zu hoch liegen. Gemäss Angaben der UNO-Abteilung für Bevölkerungsfragen gab es letztes Jahr 214 Millionen internationale Migranten, was einem Anteil von drei Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Doch in der öffentlichen Diskussion wird das Thema aufgebauscht mit Begriffen wie "globale Migrationskrise", die angeblich zu einem "Aufeinanderprallen von Zivilisationen" führen. Das verstärkt den Druck auf die Migranten, oft arme Leute, die für ihre Armut und ihren Versuch, ihre Lebensbedingungen durch harte Arbeit in einem wenig gastfreundlichen Umfeld zu verbessern, abgestempelt und zu Sündenböcken für praktisch alle Übel der Gesellschaft gemacht werden.
Dabei wird Migration durchaus positiv interpretiert: Das Bruttosozialprodukt der Empfängerländer steigt durch die Arbeitsleistung der Migranten, die häufig unbeliebte Jobs übernehmen. Die Migranten verdienen besser als im Heimatland. Sie leben meist sparsam und schicken regelmässig Geld in ihre Heimat, wo diese so genannten Remissen zur Entwicklung beitragen. 2007 wurden allein über offizielle Kanäle 250 Milliarden Dollar an Remissen überwiesen, mehr als doppelt so viel wie international für die Entwicklungshilfe aufgewendet wurde (103 Milliarden Dollar).
Der Atlas der menschlichen Migration erweitert das Verständnis von Migration durch eine detaillierte Betrachtung. Er stellt Verschiedene Arten von Migranten werden vor – Rentner, Flüchtlinge, Sans Papiers, Heiratswillige, Studierende, und gibt Antworten auf Fragen wie: Wohin ziehen überwiegend Frauen, wohin Männer? Wie gut sind sie ausgebildet? Was erwartet sie in der Fremde? Wie viele von ihnen kehren zurück? Welche Länder bevorzugen welche Migranten, wie schrecken sie die andern ab? Was bewirken die Remissen?
Touristen gehören nicht zu den Migranten, wohl aber die Saisonarbeiter, die in touristischen Gebieten ein Einkommen suchen. Über die Anteile der Wanderarbeiter in den verschiedenen Wirtschaftszweigen macht der Atlas aber leider keine Aussagen. Dafür bietet er eine historische Perspektive: Seit mindestens 60’000 Jahren wandern die Menschen in die Ferne, um neue Jagdgebiete, Felder oder Handelsgebiete zu gewinnen. Im ersten Kapitel spannt der Atlas den Bogen von den vermuteten Migrationsbewegungen des Homo Sapiens über die koloniale Migration der Griechen und Römer, die Sklaverei als grösste Zwangsmigration, die Kolonisation mit ihren Systemen der Schuldknechtschaft, die Emigration aus Europa nach Amerika im 19. Jahrhundert bis zur Besiedlung von Israel.
"Heute ist Migration eine der Ironien der Globalisierung", schreibt Russel King, Geografieprofessor an der Universität von Sussex und Direktor des dortigen Zentrums für Migrationsstudien. Die Mobilität ist ein Grundelement der Globalisierung, mit fallenden Reisekosten und immer schnelleren Transportmöglichkeiten. Einerseits kommen Wanderarbeiter mit den Unternehmen, die aufgrund der Liberalisierung des Handels in neuen Gebieten investieren. Doch während Kapital, Güter, Ideen und kultureller Einfluss immer freier fliessen, sind die Menschen weniger frei, sich international zu bewegen als noch vor fünfzig oder hundert Jahren.
Der "Atlas der menschlichen Migration" verbindet fundierte wissenschaftliche Daten mit engagierten Stellungnahmen, wo es um Missstände geht, und ist eine Chance, neue Zugänge zu diesem aktuellen Thema von globaler Bedeutung zu finden. Der Mix aus gut geschriebenen Hintergrundtexten und optisch ansprechenden geografischen und statistischen Grafiken macht den Atlas zu einem angenehm zu lesenden Nachschlage- und Aufklärungswerk.
Myriad Editions for Earthscan, Brighton 2010, 128 Seiten, CHF 24.90, ISBN 9781849711500