Basel, 18.02.2009, akte/ Der Roman "Heisser Frühling" erhält mitten im kalten Winter 2008/09 eine neue triste Aktualität mit den israelischen Militärangriffen auf Gaza. Das Buch der renommierten palästinensischen Autorin Sahar Khalifa berichtet von den dramatischen Ereignissen im Frühling 2002, als die israelischen Panzer das eingekesselte Nablus überrollten und während Wochen den Regierungssitz von Yassir Arafat in Ramallah beschossen. In den Trümmern die beiden Brüder, Madschid und Ahmed, deren Geschichte als Kämpfer und Opfer zugleich im Roman erzählt wird.

Sie stammen aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Ain Murdschan, in dessen Nähe sich gespenstisch eine israelische Siedlung ausdehnt. Beide Brüder sind auf ihre Weise sehr begabt, Madschid studiert und ist ein bejubelter Musiker, Ahmed, der verträumte und stotternde jüngere Bruder, zeigt grosses Talent als Fotograf. Doch im heutigen Palästina scheint auch das verheissungsvollste Leben irgendwann unweigerlich zu kippen. Der Anlass ist an sich unbedeutend. Denn eigentlich versucht der Schüler Ahmed bloss seine geliebte Katze zurückzuholen, die in die israelische Siedlung entwischt ist. Er wird ertappt, geschlagen, inhaftiert und angeklagt, Minen gelegt zu haben. Madschid versucht seinen Einfluss zur Freilassung des jüngeren Bruders geltend zu machen, gerät dabei in lusche Politmanöver, muss in den Untergrund abtauchen, überlebt als Befreiungskämpfer schwere Verletzungen und wird letztlich zu einem Helden und Politfunktionär. Ahmed indes verliert im Gefängnis sein Stottern, gerät dann aber in die Kämpfe des heissen Frühlings der zweiten Intifada, als er seinem verletzten Bruder zu Hilfe eilt; er engagiert sich als beherzter Lazarettpfleger und Ambulanzfahrer des Roten Halbmondes in Ramallah und Nablus und radikalisiert sich im Lauf der Ereignisse zunehmend.

Sahar Khalifa, 1941 in Nablus geboren, gilt als die bedeutendste Romanautorin Palästinas; 2006 wurde sie für ihren Roman "Die Verheissung" in Kairo mit der Nagib-Machfus-Medaille ausgezeichnet. In "Heisser Frühling" gelingt es ihr einmal mehr, scharfsinnig, realitätsnah und ohne jegliches Pathos dramatische politische Ereignisse, die israelische Besatzung und den Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung mit dem Lebensalltag der Menschen in Palästina zu verweben. Bezeichnend ist auch, dass die Frauenfiguren in ihrem Roman, obwohl nicht Protagonistinnen, den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen. Sie zeigen die Zerrissenheit der Gesellschaft auf und äussern unverblümt ihre Kritik, sowohl an der Besatzungsmacht wie auch an den politischen Verhältnissen in Palästina selbst. So etwa Umm Suad aus Nablus, die fürsorgliche Mutter der getreuen Freundin der beiden Brüder Suad, die beim Angriff der israelischen Streitkräfte auf die eingekerkerte Stadt aus der Alltagsküche heraus eine politische Lagebeurteilung hinlegt, die wohl kaum zu übertreffen ist:

"Ahmed kam gerannt: ‹Die Israelis greifen an!› Umm Suad glaubte es nicht. So oft hatten sie angedroht, in die Autonomiegebiete einzudringen und sie zu besetzen, genauer gesagt, sie wieder an sich zu reissen. Denn was regierte sie schon, die Autonomiebehörde, diese sogenannte Sulta? Nichts weiter als eine ‹Salata›, einen Salat aus lauter kleinen Schnipseln. Selbst die Leute auf der Strasse witzelten verbittert über die ‹Salat-Regierung›, die ‹Salat-Sicherheitskräfte› und das ‹Salat-Chaos› – eine ungeniessbare ‹Salata›!
Das Verwaltungsgebiet der Autonomiebehörde glich einem zerrrissenen Hemd, das in Fetzen verstreut umherlag. Der Kragen hier, der Ärmel dort, da ein Stück vom Vorderteil, anderswo eins vom Rücken, und die Knöpfe waren sowieso alle ab. Trübsinnig konnte man werden, wenn man dieses Gebilde auf der Landkarte betrachtete… Das sollte die Lösung sein?
Weder gab es ein geschlossenes Staatsgebiet noch festgelegte Grenzen. Die Führung war nicht besser, sie bestand aus Vertretern von Clans, Stämmen und Organisationen – bunt zusammengewürfelt wie Gurken, Tomaten, Radieschen, Lattich und Petersilie in einer Kiste ohne Boden und Deckel. Und wie die Sulta, so das Volk. Hier ein Bauer aus Tubas, da ein Beduine aus Khan Junis, dort ein Intellektueller aus Ramallah. Ein Wort Arabisch, ein Wort Englisch. Mädchen, die in Shorts spielten, und Frauen, die sich in Gilbab und Umhang hüllten. Ein wunderliches Gemisch ohne Zusammenhang, ohne Zusammenhalt. Durcheinander auch auf der Gegenseite, allerdings von gehobener Art: ein Siedler aus Kanada, einer aus Paris, der nächste aus Rom oder London, gefolgt von Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien und Dunkelhäutigen aus Äthiopien. Unfassbar! Was für eine irrwitzige Landkarte, ein wüster Spielplatz, ein Tollhaus! Oder nein, ein riesiger Kessel, und der Koch rührt uns alle in der Suppe um, bis wir gar sind.
Wie auch immer, Umm Suad glaubte Ahmed kein Wort."
Sahar Khalifa:Heisser Frühling, Unionsverlag Zürich 2008, 285 Seiten, SFr. 35.90, Euro 19.90, ISBN 978-3-293-00381-1