Der warme Schimmer des hochreinen Marmors von Carrara macht seit über 2000 Jahren den einmaligen Zauber von Kunstwerken und Baudenkmälern in aller Welt aus. Zur Entdeckung der bizarren Welt der Marmorsteinbrüche von Carrara im Herzen der hierzulande noch kaum bekannten Apuanischen Alpen entlang der Küste der Toskana lädt der neue Wanderführer "Marmor, Meer und Maultierpfade". Autor Pepo Hofstetter gibt die dafür notwendigen Wegbeschreibungen und einschlägigen Tipps für Verpflegung, Übernachtung und Ausrüstung und stellt die Ziele der Wanderungen in ihren historischen und politischen Kontext, wie es die Wanderführer des Rotpunktverlages seit jeher auszeichnet. Dabei verfolgt er auch die Spur des Raubbaus an den Bergen Carraras mit dem lukrativen Geschäft der Marmorverwertung bis in die Schweiz – hier seine Geschichte zum Füllstoff- und Pigment-Multi Omya aus dem Buch "Marmor, Meer und Maultierpfade".

"Michelangelo ist nicht der einzige Grund, weshalb der Marmor aus Carrara in aller Welt gepriesen wird. Unser Werk in Avenza (Italien) verarbeitet hochreines, weisses Kalziumkarbonatgestein aus Carrara in massgeschneiderte Produkte für Papierproduzenten." (Aus einem Prospekt der Schweizer Firma Omya)

Putzen wir morgens die Zähne, ist es gut möglich, dass wir das mit einem Zusatz von pulversiertem Marmor aus Carrara tun. Weisses Kopierpapier besteht bis zu 50 Prozent aus Marmor. Und auch in Lacken und Leimen, Tabletten und Düngemitteln steckt oft ein Stück Apuanische Alpen, vermutlich sogar in diesem Buch. Oder genauer: Kalziumkarbonat, das aus Marmor gewonnen wird. Der hochreine, weisse Carrara-Marmor besteht zu über 98 Prozent aus Kalziumkarbonat, das sich hervorragend als Füll- und Pigmentstoff in Papier und Farben und als Wirkstoff in Pillen, Düngern oder der Zahnpasta eignet.

Carrara ist vor allem wegen der Marmorblöcke bekannt,  die man aus seinen Bergen holt. Doch in den letzten zwanzig Jahren hat sich ein Geschäft entwickelt, das volumenmässig bedeutender ist: das Geschäft mit Geröll und Schutt. Auf jährlich rund eine Million Tonnen Marmorblöcke kommen vier Millionen Tonnen Geröll und Schutt, die man zu Kalziumkarbonat pulverisiert oder zu Granulat zertrümmert, das vor allem im Strassenbau verwendet wird. Sie fallen beim Ausbruch der Marmorblöcke an oder werden den riesigen Geröllhalden (Ravaneti) entnommen, welche die Landschaft prägen, aber immer mehr schwinden.

Wie wichtig das Geschäft mit den Bruchsteinen geworden ist, zeigt eine Liste der Umweltorganisation Legambiente. Demnach förderten 8 der insgesamt 85 Steinbrüche Carraras 2005/06 überhaupt keine Blöcke, sondern bloss Bruchsteine. Bei 72 Steinbrüchen betrug der Blockabbau weniger als 30 Prozent. "Das zeigt", sagt Mariapaola Antonioli, die Präsidentin von Legambiente Carrara, "dass es nicht die Ausnahme ist, wenn unsere Berge zertrümmert werden, um Kalziumkarbonat zu gewinnen, sondern die Regel. Es ist heute ein strukturelles Merkmal des Bergbaus und vor allem der grossen und mittleren Betriebe."

Schweizer Konzern an vorderster Front
Der wichtigste Produzent von Kalziumkarbonat in Carrara ist ein Schweizer Multi. Die Firma Omya entdeckte weltweit als erste, wie gut sich das Material als Füllstoff für Papier und Farben eignet. Beim Papier ersetzt es die Zellulose und verleiht ihm einen hochweissen, warmen Glanz. Omya, ein 1884 gegründetes, wenig bekanntes Familienunternehmen, hiess früher Plüss-Stauffer und ist der weltweit grösste Produzent von kalziumhaltigen Füllstoffen und Pigmenten. Sie hat ihren Sitz in Oftringen und beschäftigte 2008 an 100 Standorten in 50 Ländern über 6’000 Personen. Der Umsatz beträgt nach eigenen Angaben "mehr als 2,5 Milliarden Franken" (die inzwischen eingestellte Wirtschaftszeitung Cash nannte 2005 3,4 Milliarden).

Das hochmoderne Werk in Avenza bei Carrara gehört zu den fünf wichtigsten Produktionsstätten des Konzerns, erzählt Direktor Luca Pappalardo, als er uns im Frühling 2009 die Anlagen zeigte. Pro Jahr produzierten die rund 70 Beschäftigten bis zu 800’000 Tonnen Kalziumkarbonat. Der Rohstoff stammt vor allem aus Steinbrüchen des Ravaccione-Tals bei Torano. Sie haben sich tief in die Ausläufer des Monte Sagro hineingefressen. "Das ist das Reich von Omya und Barrattini", erläutert uns ein paar Tage später der Marmorunternehmer Franco Barrattini nicht ohne Stolz, als er uns die Bergwerke zeigt. Aber nicht alle sind über die Aktivitäten in diesem Reich glücklich.

Die Gefahr von Erdrutschen steigt
Im Ravaccione-Tal hält Omya die Konzessionen für fünf Steinbrüche. Einer davon ist der berühmte Polvaccio, in dem Michelangelo den Block für seine Pietà fand. Omya hat die Brüche an Franco Barratini weiterverpachtet. Der Selfmademan von altem Schrot und Korn, der von seinem zwölften Lebensjahr an in den Brüchen arbeitete, ist heute einer der erfolgreichsten Marmorunternehmer Carraras. Barratini baut hochreine Marmorblöcke für Kunden in aller Welt ab, etwa für den Vatikan, das thailändische Königshaus oder die Post der Urkaine, und liefert das Geröll, das beim Ausbruch anfällt, den Schweizern. Im Omya-Werk La Piastra oberhalb von Torano werden die bis zu acht Meter grossen Ausschusssteine gesäubert und zu Kiesel zertrümmert. Dann fahren täglich bis zu hundert Laster das Material durch Carrara nach Avenza, wo es zu feinstem Trockenpulver und Slurry (Kalkmilch) gemahlen wird. Die Milch braucht man für papier, das Pulver für Kunststoffe, Farben, Leim und Zahnpasta.

Finanziell ist das Geschäft attraktiv, trotz hoher Transport- und Energiekosten. Eine Tonne Bruchsteine kostet 1 bis 2 Euro, hinzu kommt pro Tonne Stein eine Marmortaxe von 3,50 Euro (Stand Frühling 2009). Eine Tonne hochwertiges Kalziumkarbonat verkauft sich laut Angaben der Handelskammer zu bis zu 600 Euro. Zum Vergleich: Ein hochwertiger Marmorblock kostet pro Tonne rund 400 Euro, eine Tonne Granulat für den Strassenbau 40 Euro. Doch die ökologischen Kosten für die Allgemeinheit sind massiv. Omya und die ebenfalls im Kalzium-Geschäft trätige, kleinere französisch-belgische Imerys haben in Carrara keinen guten Ruf. Viele werfen den Firmen vor, sie heizten mit ihrem Geschäft den Raubbau an den Bergen weiter an. Viele Steinbrüche seien bloss noch aktiv, weil sie Geröll verkaufen könnten. Die Sektion Carrara des italienischen alpenclubs (CAI) protesteierte gar mit einer Plakataktion. Andere warnen, die Abtragung alter Geröllhalden destabilisiere die Hänge und führe zu Erdrutschen und Überschwemmungen.

Omya-Direktor Luca Pappalardo weist die Vorwürfe zurück. Seine Firma verwerte bloss den Ausschuss. Es würden keine Berge zerstört, um Kalziumkarbonat zu gewinnen. Zudem achte Omya peinlich genau auf die Einhaltung hoher, selbst gesetzter Umweltstandards. Das bestätigt auch Legambiente. Die Umweltorganisation ist nicht grundsätzlich gegen die Verwertung von Ausschuss und den Abbau in den Geröllhalden. Aber das müsse fachmännisch, von oben nach unten erfolgen, was aus Kostengründen oft nicht geschehe. Alte Halden enthielten darüber hinaus viele Altlasten wie Schweröl, das die Trinkwasserquellen verschmutzen könnte. Aber auch Legambiente findet es problematisch, dass dank des Geschäfts mit dem Schutt Steinbrüche weiterproduzieren, die sonst längst geschlossen hätten.

Das Problem mit dem Feinstaub
Das Geschäft mit dem Abfall ist nicht nur für die Berge fatal, sondern für die Lebensqualität in Carrara überhaupt. Es hat den Lkw-Verkehr massiv anschwellen lassen, der heute zu den vordringlichsten Problemen der Stadt gehört. Bei guter Wirtschaftskonjunktur donnern täglich bis zu 1’000 Lastwagen durch die Stadt – vier von fünf befördern Geröll. Das bedeutet nicht nur viel Lärm und Gestank, sondern auch eine massive Belastung mit Feinstaub (PM 10). Dieser stammt aus dem feinen Marmorstaub, der an den schmutzigen Lastern klebt und von den Ladebrücken fällt.

Legambiente und Bürgerinitiativen fordern seit Jahren griffige Massnahmen, um den Verkehr einzudämmen und den Feinstaub zu vermindern. Doch die Stadtregierung tut sich schwer. Sie verweist auf die neue Marmorstrasse, die Strada dei Marmi. Weitgehend in Tunneln führt sie östlich der Stadt von den Steinbrüchen zur Industriezone und zum Hafen. 2011 soll sie endlich fertig werden. Viele zweifeln allerdings, ob der Termin eingehalten werden kann – zu oft schon wurde die Eröffnung vertagt. "Bis die Strasse fertig ist, gibt es hier keinen Marmor mehr", spottet Unternehmer Barrattini. Legambiente befürchtet, die Umfahrung werde die Probleme einfach verlagern und könnte das Geschäft mit den Bruchsteinen sogar noch beflügeln. Weil dann niemand mehr gegen den Lkw-Verkehr protestiere. Omya jedenfalls hat vorgesorgt: Sie hat sich in Avenza ein umfangreiches Gelände gesichert, um bei Bedarf die Produktionskapazität zu verdoppeln.

Pepo Hofstetter: Marmor, Meer und Maultierpfade. Die Apuanischen Alpen – Wandern in einer unbekannten Toskana, Rotpunktverlag Zürich 2010, 311 Seiten, CHF 44.-, Euro 28.-, ISBN 978-3-85869-420-1