Schwerwiegende Erinnerungen
Das zu Ende gehende 2010 ist ein wichtiges Jahr für Mexiko: 200 Jahre Unabhängigkeit, 100 Jahre Revolution. Gibt es wirklich Grund zum Feiern? Was ist aus den entsprechenden Forde-rungen in der bewegten Geschichte des Landes geworden?
Diesen und vielen weiteren Fragen ist Anne Huffschmid in ihrem neusten Buch auf den Grund gegangen: Als mehrfache Publizistin von Büchern über Mexiko und freie Autorin, unter anderem für die "Wochenzeitung" und die "NZZ", beschäftigt sie sich schon lange mit dem Land. "Es ist eine Art Liebesgeschichte, die, anders als andere, nun schon länger als mein halbes Leben währt", sagt sie über ihre Beziehung zu Mexiko. Es ist ein Land, wo Faszination und Überdruss, Vertrautheit und Befremden, Leidenschaft und Irritationen aufeinandertreffen.
Geschichte und Gegenwart
Das Buch ist eine Reise, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, jedoch einen sehr breiten und nicht minder tiefen Eindruck in die "mexicanidad" verschafft.
"Am 13. August 1521 fällt Tlatelolco (heute Mexiko-Stadt), heldenhaft verteidigt von Cuauhtémoc, in die Hände von Hernán Cortés. Das war weder Sieg noch Niederlage, sondern die schmerzliche Geburt eines Mestizenvolkes, das das heutige Mexiko ist." Dies steht in Stein gemeisselt vor den Ruinen der altmexikanischen Stadt Tlatelolco. Sich selbst als Nachkommende von Siegern und Besiegten zugleich zu sehen, mutet als tief verankertes zivilisatorisches Selbstbewusstsein an. So dachte Anne Huffschmid, als sie vor 24 Jahren zum ersten Mal am Ruinenteppich entlanglief. Der Blick sei heute ein anderer. Diese "Mischung" fungiere vielmehr als Ideologie einer friedlichen Synthese zweier Welten.
Das Buch leuchtet Mexiko von innen her aus und berichtet von seinen unterschiedlichsten Seiten. Daraus resultiert ein Curriculum Vitae eines traumatisierten Landes. Zu Beginn steht die Eroberung durch Spanien, welche Völkermord und gewaltsame Mestizisierung mit sich brachte. Dann die teuer erkämpfte Unabhängigkeit, welche die Macht jedoch nur den kreoli-schen Eliten übertrug. Mitte des 19. Jahrhunderts geschah der grosse Territorialverlust an die USA und kurz darauf die Heimsuchung durch die Franzosen. Nachdem Mexiko kurze Zeit von einem österreichischen Kaiser regiert worden war, folgte auch schon die "Modernisierungsdiktatur" von Porfirio Díaz. Die Revolution folgte, der Gründungsmythos des modernen Mexiko ebenso. Bei genauerem Betrachten waren es eher zehn Jahre Bürgerkrieg, in der zu-meist Verräter und Putschisten die Oberhand behielten. Die eigentlichen Helden von damals wie Zapata und Villa waren zu ihrer Zeit Verlierer und Verratene.
So zieht sich die Geschichte mit mehr Tief- als Höhepunkten weiter, bis sie in die moderne Gegenwart mündet, mit Mafia, Korruption, Frauenmorden, Drogenkriegen und einer enormen Zahl an arbeitslosen Jugendlichen. Nichtsdesto- trotz getraut sich dasselbe Mexiko, sich immer wider neu zu erfinden: "Mexiko ist eine Welt, in die viele Welten passen", so formulierten es einst die Zapatistas.
So ist die Reise durch Mexiko nicht nur eine Spirale scheinbarer Hoffnungslosigkeit: Die Rede ist von Kultur, von indigener Tatkraft und Energie. In der postkolonialen Metropole Oaxaca wird für Kultur und Autonomie gekämpft, und auch die Megacity Mexiko-Stadt ist immer noch am Leben. Alltag also statt Apokalypse. "Mexiko – das Land und die Freiheit" ist mit den vielen Momentaufnahmen, Stimmungsbildern und Eindrücken gut zu lesen und auf wohltuende Weise nicht mit Fakten überladen. Ein schönes Intermezzo schaffen zwei Fotodokumentationen, welche jenseits von platter Folklore auch einen visuellen Eindruck des Landes geben.
Erschienen in "AMNESTY – Magazin der Menschenrechte" von November 2010, die von Amnesty International, Schweizer Sektion, herausgegeben wird. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung