«Somos Cuba» steht auf dem handbemalten Holzschild am Eingang des baufälligen Hauses. Ein Pfeil führt die Besucher über eine unebene Steintreppe in das erste Stockwerk, direkt in die Küche von Vladimir Zamora. Der Inhaber des kleinen, aber stilvoll eingerichteten Restaurants in der kolonialen Altstadt Havannas, flambiert Ananasscheiben. Es zischt und brennt in der Bratpfanne, bevor Zamora die Früchte sorgfältig auf dem Teller auslegt. Im Kühlschrank greift er nach einer Bierdose der Marke «Bucanero» und stellt sie auf den Tisch: «Das geht auf ’s Haus», sagt der gut gelaunte Wirt und setzt sich zu seinen Gästen. Er habe sein Restaurant vor zwei Monaten eröffnet und es laufe immer besser, erzählt Zamora. Stolz zeigt er auf das Flachdach eines alten Schuppens im Innenhof. «Darauf möchte ich bald eine Terrasse einrichten », stellt er seinen Plan vor. Der alleinerziehende Vater zweier Mädchen steckt seine ganze Energie in das Restaurant, die Privatsphäre hat er dafür aufgegeben. Wer die Toilette sucht, findet hinter der Küchentüre einen winzigen, fensterlosen Raum, in dem knapp zwei Betten Platz haben und einige Kleider herumliegen. Hier wohnt die Familie und hinter einer improvisierten Schiebetüre benutzen auch die Gäste ihre Toilette.

Attraktiv und marode

So wie Zamora, nehmen immer mehr Bewohner Havannas ihr Leben selbst in die Hand. Seit den Wirtschaftsreformen im Jahr 2011 ist es Privatpersonen erlaubt, ein Geschäft zu gründen. Und weil Kuba mehr und mehr Touristen aus aller Welt anzieht, nimmt in La Habana Vieja, Havannas historischem Kern, die Anzahl der Cafés sowie der Kunst- und Souvenirläden stetig zu. Gemäss Angaben des zuständigen Ministeriums besuchten in den ersten drei Monaten diesesJahres rund eine Million Touristen die Karibikinsel, was gegenüber dem Vorjahr einer Zunahme von 14 Prozent entspricht. La Habana Vieja wurde 1982, zusammen mit der Hafenfestung aus dem 16. Jahrhundert, von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt. Ein Spaziergang über die Hauptplätze, die das städtebauliche Muster aus der Kolonialzeit repräsentieren, gehört heute zu jedem Kuba-Besuch. Doch die Bausubstanz der Kolonialstadt ist marode, viele Häuser sind drastisch überbelegt, zerfallen zusehends und müssen geräumt werden. Der Erhalt von Habana Vieja, das auf Besucher romantisch wirkt, stellt für Bewohner und Behörden eine Herkulesaufgabe dar. Nicht nur, weil die Renovationen drängen, sondern auch, weil die wachsende Tourismusbranche die Preise im Zentrum ansteigen lässt und es langsam in ein Museumsquartier zu verwandeln droht. Die mit der Renovation beauftragte staatliche Institution «La Oficina del Historiador de la Ciudad de La Habana» (OHCH) versucht darum in einem Balanceakt, das bauliche Kulturerbe zu bewahren und gleichzeitig das Leben der 88000 Bewohnerinnen und Bewohner in der Altstadt weiterhin zu ermöglichen. Finanziert wird das Ganze vor allem über Einkünfte aus dem Tourismus, welche die OHCH selbst erwirtschaftet.

Teure Sanierung

Trotzdem bleiben die Ressourcen für das Grossprojekt knapp, die OHCH ist auf die Mitarbeit der Lokalbevölkerung angewiesen. Dafür erhält die staatliche Behörde zusätzliche Unterstützung aus der internationalen Zusammenarbeit, auch aus der Schweiz. Peter Sulzer, Leiter des DEZA-Kooperationsbüros in Havanna, erklärt, dass Bewohnerinnen und Bewohner in öffentlichen Foren über ihre Bedürfnisse diskutieren und  eigene Projekte entwerfen. Beispielhaft für solche Privatinitiativen steht die Coiffeur-Gasse «Callejón de los Peluqueros»: Gilberto Valladares, auch Papito genannt, hatte die Idee, in seinem Haarstudio ein kleines Museum zur Geschichte des Coiffeurberufs einzurichten. Er schloss sich dafür mit seinen Nachbarn zusammen, gemeinsam hat man die Gasse saniert und neu belebt. Heute gibt es dort Cafés und Restaurants, in denen sich alles um Haare dreht, sowie eine Coiffeurschule für Jugendliche. Die Gasse hat mittlerweile Kultstatus erreicht, aber die Idee lässt sich nicht so einfach auf andere Teile der sanierungsbedürftigen Altstadt übertragen.

Schwieriger Balanceakt

Mayra Espina, die bei der DEZA für das Projekt verantwortlich ist, kennt die Problematik: «Ein Restaurationsprojekt darf den Fokus nicht nur auf die architektonische Substanz und auf den Wert der Altstadt für den Tourismus legen, weil dies zum Ausschluss der ursprünglichen Bevölkerung führt.» Die Schweiz wolle dazu beitragen, La Habana Vieja am Leben zu erhalten, fasst die Soziologin die Herausforderung zusammen. Für David Cruz**, einen Kunstschweisser in Ausbildung, ist die Renovation der Altstadt wichtig, weil er dadurch Arbeit hat. Aber nicht nur: Es geht auch um den Stolz auf seine Stadt mit dem Label «Weltkulturerbe». Das Atelier der jungen Handwerker, das von der OHCH unterstützt wird, befindet sich im touristischen Zentrum. Obwohl Cruz, wie die meisten Kubaner, im wirtschaftlichen Wandel vor allem Chancen sieht, spürt er auch, mit welcher Wucht unterschiedliche Welten aufeinanderprallen: «In die schönen Cafés auf den Plätzen gehe ich nicht, das ist für mich zu teuer», sagt er und ergänzt: «Manchmal fühlen wir uns hier mit den vielen Touristen ein wenig wie die Tiere im Zoo.» Kritische Stimmen sagen, der Tourismus sei schon zu stark gewachsen. Der Rapper Jorgito Kamankola zum Beispiel spricht in seinem Song «Con la lengua afuera» (Mit heraushängender Zunge) in deutlichen Worten darüber, wie die «Kubaner schwitzen müssen, damit der Tourismus sich erfreut.» Es gibt auch Warnzeichen. An einer verschlossenen Holztür in der Strasse San Ignacio, die in das ehemalige Rotlichtviertel führt, hängt ein Zettel: «Wegen Wassermangels geschlossen.» Erst vier Tage später können Einheimische und Touristen in dem kleinen Imbisslokal wieder Sandwichs und Kaffee bestellen. Mit den stets ausgebuchten Hotels und Pensionen stösst die Infrastruktur Havannas an ihre Grenzen. Es kommt immer wieder zu Wasser- und Nahrungsmittelknappheit. Obwohl die Beschaffung von Esswaren und Produkten des täglichen Bedarfs in Kuba aufgrund der Abhängigkeit von Importen noch nie einfach war, verschärft sich die Problematik. Mayra Espina nennt ein Beispiel aus dem Alltag: «Weil die Hotels Vorräte anschaffen, ist es an gewissen Tagen unmöglich, Toilettenpapier zu finden.» Sie sagt, es sei schwierig einzuschätzen, wie die weitere Öffnung Kubas und die angekündigte Normalisierung der Beziehungen zu den USA das Leben der Stadtbewohner verändern wird. Aber sie weiss: «Der Druck, alle Leute miteinzubeziehen, wird steigen. Trotzdem ist die Öffnung positiv, weil sie neue Perspektiven eröffnet. Klar ist, dass Herausforderungen und Möglichkeiten immer Hand in Hand gehen werden.» Noch spielen die vielen Kinder Havannas mit ihren Glasperlen auf denselben Strassen, wo die Touristen ihre Erinnerungsfotos schiessen. Doch die Habaneros und Habaneras stehen einmal mehr vor einer grossen Hürde, der sie mit ihren eigenen Rezepten begegnen; der Wirt Vladimir Zamora hätte kaum einen besseren Namen für sein Restaurant finden können als «Somos Cuba».
*Andrea Müller ist freie Journalistin in Zürich mit Spezialgebiet Lateinamerika.
**Name auf Wunsch des Informanten geändert.