Selim Özdogan: Die Tochter des Schmieds. Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2005
318 S., Fr.36.-, €19.90
ISBN 3-351-03039-8
Timur, der Schmied, ist glücklich. Er lebt mit seiner Frau Fatima, die so schön wie ein Stück vom Mond ist, und den beiden Töchtern Gül und Melike in einem Dorf in Ostanatolien. Fatima ist klug, fleissig und hält das Geld zusammen. Timur hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht und kann sich sogar, als erster im Dorf, ein Radio leisten. Doch kurz nach der Geburt von Sibel, erkrankt Fatima an Typhus und stirbt an den Folgen dieser Krankheit. Für Timur bricht eine Welt zusammen. Aber er soll schnell wieder heiraten, denn die drei kleinen Mädchen müssen versorgt werden. Er heiratet die junge Arzu, die zwar pflichtbewusst, aber lieblos und ohne Verständnis ist. Ein türkisches Sprichwort sagt, dass das Mädchen, dessen Mutter stirbt, sich für eine Mutter hält. So übernimmt Gül die Funktion der Ersatzmutter. Sie umsorgt ihre Geschwister, kümmert sich um den Haushalt und fordert nie etwas für sich. Frühzeitig verlässt sie die Schule ohne einen Abschluss, arbeitet bei einer Schneiderin und heiratet mit fünfzehn ihren trunksüchtigen Onkel Fuat, der von Spültoiletten, schnellen Autos und Deutschland träumt. Obwohl Gül Wünsche und Sehnsüchte hat, ergibt sie sich ihrem Schicksal als Ehe- und Hausfrau, während ihre Schwestern selbstbewusst andere Wege gehen und die Traditionen langsam zum Bröckeln bringen.
Eines Abends teilt Fuat seiner Frau Gül mit, dass er nach Deutschland geht. E will seine Träume verwirklichen und schnell zu Geld kommen. Die Formalitäten sind rasch erledigt und er lässt Gül einsam zurück. Es wird für sie ein harter Winter. Schliesslich packt Gül ihre wenigen Habseligkeiten in einen Koffer, weil, so sagt man ihr, es in Deutschland alles gibt und reist ihrem Mann nach.
Selim Özdogan wurde 1971 geboren und lebt heute in Köln. Seit 1995 ist er Schriftsteller und hat schon mehrere Romane veröffentlicht. Bekannt wurde er mit dem Roman „Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist“.
Mit dem vorliegenden Buch beleuchtet er den Hintergrund der ersten Immigranten, die Anfang der 60er Jahre nach Deutschland kamen. Er berichtet über das Leben zwischen Stadt und Dorf, Winter und Sommer, Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Unglück, Tabus und Traditionen. Er beschreibt die Veränderungen, die auf einmal in die kleine Welt von Timurs Familie hereinbrechen: Das Kino wird entdeckt, die Glühbirne, die Heizung und eine anständige Toilette herbeigesehnt, das ferne Deutschland gelobt. Özdogan tippt viele Dinge an, lässt vieles offen, rückt aber die Begebenheiten und Unzulänglichkeiten des alltäglichen Lebens in den Mittelpunkt.
Özdogan schreibt in einem schlichten Stil, sensibel, aber nicht sentimental. Die Geschichte endet zwar etwas abrupt, sie trägt aber sicherlich dazu bei, die Auseinandersetzung anatolischer Menschen mit der Moderne besser zu verstehen.
Ulrike Emmenegger
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