Sextourismus in Rio de Janeiro.
"Sextourismus in Rio de Janeiro" ist zum einen Zeugnis eines grossen Forschungsdranges. Neuhauser skizziert zunächst theoretische Perspektiven von Raum und Geschlecht oder vom Gespräch über etwas, dem Besprochenen und der Deutungsmacht. Und verbindet dann die Perspektiven mit den Beobachtungen der Sexarbeit sowie mit den Aussagen der Sexarbeiterinnen in strukturierten Interviews .
Zum anderen ist das Buch Resultat von Neuhausers Versuch, die Sexarbeiterinnen in Rio vom festgeschriebenen Status des Opfers zu befreien und zu zeigen, wie sie versuchen, ihre Handlungsspielräume zu nutzen und zu erweitern, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. In den Medien wird oft nicht unterschieden zwischen Kindersextourismus und Sexarbeit erwachsener Frauen. Zudem wird am Bild der Unterschichtsfrau festgehalten, die aufgrund ihrer Armut keine andere Möglichkeit sieht, als ihren Körper für Geld zu verkaufen.
Die Sicht der Sexarbeiterinnen aus erster Hand
Armut spielt auch in den Aussagen der befragten Frauen eine Rolle. Aber sie stellen es so dar, dass sie unter verschiedenen schlechten Alternativen die beste gewählt haben. Zudem hat die Sexarbeit aus ihrer Sicht ihre Wurzeln in den ungerechten Geschlechterverhältnissen: Sex haben gehört demnach zum normalen Leben jeder Frau in Rio. "Sie prostituieren sich, sie erniedrigen sich, sie werden gefickt und bekommen keinen Cent dafür", sagt eine Sexarbeiterin über Frauen, die nicht mit Sex Geld verdienen. Dafür Geld zu verlangen wird quasi als Entwicklungsschritt hin zu einem vernünftigeren Verhalten dargestellt. Die Sexarbeiterinnen betonen die Hygiene der Professionellen, die alle drei Monate zum Arzt gehen, sich regelmässig auf HIV/AIDS testen lassen und "sogar mit dem Freund Kondome benutzen". Irgendwo lauert auch bei den Sexarbeiterinnen noch der Wunsch, "den Richtigen" zu finden. Doch es scheint ihnen ein unrealistischer Gedanke, und die Anpassung an die "Realität", dass sich Frauen Männern hingeben, das einzig Vernünftige. Dabei muss, selbst wenn Gefühle im Spiel sind, etwas für die Frauen herausschauen. Entweder Geld, oder Bezahlung der Miete oder der Stromrechnung. Indem die Frauen für ihre körperliche Hingabe vom Mann eine materielle Vergütung nehmen, befreien sie sich ein Stück aus ihrer passiven Rolle.
Viele der Frauen sehen die Sexarbeit als vorübergehende Beschäftigung, bis sie sich bessere Möglichkeiten erarbeitet haben. Aber der Aufstieg ist durch verschiedene Barrieren versperrt. Der Arbeitsmarkt diskriminiert nach Geschlecht, Klasse und Hautfarbe. Im Sextourismus haben junge und schwarze Frauen dafür bessere Chancen. Doch wollen sie auf andere, insbesondere männlich geprägte Berufsfelder wechseln, fürchten die Frauen, könnte ihre Karriere von einem Chef zu Fall gebracht werden, der sie als Freier kennt und von ihrer Vergangenheit als Prostituierte weiss.
Dies sind nur einige Schlaglichter im differenzierten Bild, das Neuhauser von den Frauen im Sexgewerbe und ihren Bezügen zu Männern, Macht und Gesellschaft entwirft. Die spannende Arbeit kann sich aufgrund der akademischen Schreibe allerdings wohl nur ein Fachpublikum erschliessen.
Johanna Neuhauser: Sextourismus in Rio de Janeiro. Brasilianische Sexarbeiterinnen zwischen Aufstiegsambitionen und begrenzter Mobilität. Dynamiken von Raum und Geschlecht, Band 3. transcript Verlag, Bielefeld 2015. 334 Seiten, CHF 48.40, EUR 39.99 (unverbindliche Preisangabe). ISBN 978-3-8376-3190-6.