Sidrehs Antwort auf die Zerstörungen der Beduinendörfer
"Der Allmächtige weiss, dass die Zerstörungen der Häuser mich auch emotional zerstören. Die Welt fühlt sich enger an als dieser Ring um meinen Finger. Denn: haben sie nicht das Zuhause einer Familie zerstört, die darin lebte und beschützt wurde?" Fathiya aus Abu Gardod*
Während des Krieges von 1948 flohen etwa 54’000 Beduinen-Frauen und Beduinen aus dem Negev nach Ägypten oder Jordanien. Lediglich 11’000 blieben und wurden von der israelischen Regierung während der 50er und 60er Jahre in die "Enclosed Zone", einem kleinen abgegrenzten Gebiet im Nordosten des Negev, übersiedelt. Die Beduinen-Frauen und Beduinen der "Enclosed Zone" zählen heute etwa 160’000 Personen und können aufgrund israelischer Gesetze kaum noch der traditionellen nomadischen Ziegen-Weidewirtschaft nachgehen. Etwa die Hälfte der Beduinen-Frauen und Beduinen lebt in sieben Städten, die die israelische Regierung in den 70er Jahren als Teil eines Umsiedlungsplans baute, die andere Hälfte der Beduinen-Frauen und Beduinen Israels lebt in 45 Dörfern. Die meisten der Beduinen-Dörfer wurden in den 1950er Jahren, als die israelische Armee Beduinen aus dem Sinai zwangsumsiedelte, rückwirkend illegalisiert. Diese Dörfer gibt es auf offiziellen israelischen Landkarten nicht, ihnen ist die Grundversorgung mit Wasser und Strom verboten und aufgrund der mangelnden Strassenanbindung können die Kinder kaum eine (höhere) Schule besuchen. Aber auch die anerkannten Beduinen-Städte sind unterentwickelt und die Arbeitslosigkeit liegt bei 60-80%.
"Wie können wir in Häusern wohnen, die aneinanderkleben, wenn wir es gewohnt sind, in der Weite, in weiten Räumen zu leben? Und wenn sie uns nicht erlauben, Herden zu halten, wie sollen wir dann überleben und wie sollen wir unseren Kindern helfen, wenn wir in Häusern ohne etwas zu essen und ohne Wasser leben? Wollen sie, dass wir vor Hunger und Armut sterben oder wollen sie uns zwingen, kriminell zu werden und zu stehlen? Ich werde beides sicher nicht tun, der Allmächtige sei mit uns." Fathiya aus Abu Gardod*
Mit den Zwangsumsiedlungen einher ging auch das Absentee’s Property Law von 1950, das Gesetz über den Besitz abwesender Personen, das die Landrechte abwesender EigentümerInnen, inklusive intern vertriebener oder geflohener AraberInnen, an eine israelische Behörde überträgt, was letztlich einer Enteignung gleichkommt. Heutzutage sind daher die von Israel errichteten Städte der einzige Ort, wo Beduinen "legal" wohnen können. Seit einigen Jahren verstärkt Israel seine bisherige Praxis und reisst die nicht-anerkannten Beduinen-Dörfern immer häufiger nieder – "legitimiert" durch ein Gesetz von 1965, das die Zerstörung der Behausungen erlaubt, die in nicht-anerkannten Siedlungen mit Zement gebaut sind. Mehr als 90 Prozent der Häuser haben bereits einen entsprechenden Abriss-Bescheid erhalten. Die israelische Regierung hat ein Netz an Gesetzen gewoben, das es den Beduinen verunmöglicht, legal weder auf dem Land, für das sie Besitztitel hielten, zu wohnen, noch dort, wo sie sich gerne niederlassen möchten.
"Die israelische Regierung kämpft gegen uns einen lautlosen Kampf, sie zerstört die Beduinen im Negev, sie drängt sie still und leise, ohne dass es jemand bemerkt, kritisiert oder dagegen opponiert." Fathiya aus Abu Gardod*
Die israelische Regierung verfolgt mit dem Negev Development Plan das Ziel, bis 2015 250’000 neue SiedlerInnen im Negev anzusiedeln. Sie treibt daher die Zerstörung der Beduinen-Siedlungen voran, um bis 2014 die Beduinen entweder zwangsumgesiedelt oder vertrieben zu haben. Im Jahr 2009 wurden 254 Unterkünfte zerstört, im letzten Jahr etwa 700, für das laufende Jahr hat die Regierung das Ziel verkündet, die Anzahl der zerstörten Beduinen-Hütten nochmals zu verdreifachen. Die Zerstörungen haben letztlich das Ziel, die Beduinen zu zwingen, sich in den ihnen zugewiesenen Städten niederzulassen, die ihnen ihre traditionelle Lebensweise verunmöglichen – oder ins Ausland auszuwandern bzw. zu flüchten.
"Die Behörden haben vier Häuser in Abda zerstört, die den Familien Ghareer, Alrmaq und Saud gehören – angeblich wegen illegaler Bebauung. Zusätzlich haben die Zerstörungsarbeiten zum 32. Mal alle Hütten und Zelte in Taweel in Mitleidenschaft gezogen. In Zarnouqu wurde ein Café zerstört, das einem Mann aus Abu Qwaider gehörte. Der Abbruch fand unüblicherweise nach dem Nachmittags-Gebet statt, sonst werden die Zerstörungen in den frühesten Morgenstunden durchgeführt." Bericht in der Sidreh-Zeitung*
Sogar das Unterrichtsgebäude der cfd-Partnerorganisation Sidreh, in dem die Alphabetisierungs- und Trainingskurse abgehalten werden, wurde schon mehrmals dem Erdboden gleichgemacht. Sidreh hat öffentlich auf diese Umstände aufmerksam gemacht und gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen bei den israelischen Behörden lobbyiert. Schwerpunktmässig unterstützt Sidreh Beduinen-Frauen dabei, arabisch und hebräisch lesen und schreiben zu lernen sowie traditionelle Webeprodukte selbständig zu vermarkten und damit ein Einkommen zu erzielen. Der Bedarf ist gross, leben doch laut Angaben von Sidreh fast 80 Prozent der Beduinen an oder unter der Armutsgrenze, mehr als 75 Prozent der Beduinen-Frauen über 30 Jahre können weder lesen noch schreiben, über 90 Prozent der Frauen sind arbeitslos. Aufgrund der hohen Analphabetenrate kennen Frauen ihre Rechte kaum und können sie damit auch nicht einfordern. Bei Sidreh können sie lesen und schreiben lernen und erhalten Informationen über ihre Rechte. Dies hat zu einem erstaunlichen Empowerment (Befähigung, ihre Interessen eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten) der Frauen geführt. Sie sprechen nun öffentlich von den Zerstörungen und setzen sich für ihre Rechte ein.
"Das Mädchen in der beduinischen Gesellschaft ist schwach, sie ist ein schwacher Halm ohne Kraft oder die Möglichkeit, sich der Gesellschaft zu widersetzen – sofern sie keine Bildung hat. Das Gesetz sollte sowohl die Frau als auch den Mann schützen. Aber die Frau sollte sich nicht von ihrer Tradition und Kultur lösen." Fathiya aus Abu Gardod*
Seit etwa einem Jahr bringt Sidreh eine Zeitung heraus, in der die Frauen aus den Projekten selber zu Wort kommen. Sie werden sogar mit ihrem Foto abgebildet, was mit einem Tabu unter den Beduinen bricht: Zum ersten Mal treten Frauen in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft in Erscheinung: sie schreiben selber die Artikel und werden mit ihrem Konterfei abgebildet. Dafür brauchen sie zwar noch das Einverständnis ihres Ehemanns, aber es fällt ihnen nun leichter, mit ihm zu verhandeln. Und den Männern fällt es leichter, zuzustimmen, weil sie merken, dass sie stärker sind, wenn sich auch die Frauen am Widerstand gegen israelische Repressionen beteiligen.
"Damals bestand ich darauf, meine Brüder zu begleiten, aber sie verboten es mir und sagten, ich würde nur anfangen zu weinen, wenn ich die Bulldozer sehen würde, wie sie die Hütten niederrissen, und die Schreie der Frauen und Kinder hören. Aber ich bestand darauf, bis sie schliesslich nachgaben, sogar mein Vater. Also sind wir den Truppen etwa drei Kilometer weit gefolgt, bis sie die Hütte eines jungen Mannes erreichten, der bald heiraten wollte. Die Bulldozer fingen an, die Hütte zu zerstören. Das war schwierig und hart anzusehen und ich sah einige schreiende, zu Tode erschreckte Frauen und Kinder angesichts einer grossen Truppe der Sonderpolizei, die mit Waffen und Schlagstöcken ausgerüstet war." Hadaya Abou Shaheeta*
Sidreh versucht, den Zerstörungen der Beduinen-Siedlungen entgegenzuwirken, indem die Organisation den Aufbau von Gemeinschaftsstrukturen unterstützt, an deren Basis Frauen stehen. Sidreh stärkt Frauen in ihrer Selbstbestimmung und stellt die Verbindung her zu verschiedenen lokalen, nationalen oder internationalen Organisationen, so dass sich die Frauen für ihre Rechte einsetzen können. Sidreh hat ausserdem mehr als 700 Beduinen-Frauen für eine friedliche Demonstration in Jerusalem mobilisiert. Die Anführerinnen der Beduinen-Frauen konnten sich daraufhin mit dem israelischen Innenminister treffen, der versprach, sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Es war das erste Mal, dass Beduinen-Frauen ihr Anliegen auf so wirkungsvolle Weise selber in die Hand nahmen.
*Die Zitate sind der Sidreh-Zeitung entnommen.
Dieser Beitrag erschien in der cfd-Zeitung vom 09.09.2011. Die cfd-Zeitung erscheint vier mal jährlich und ist kostenlos im Abonnement erhältlich. Diesen und weitere spannende Beiträge finden Sie auch auf der Website von cfd: www.cfd-ch.org. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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