Zwei Paar Wanderschuhe kostet mich die Fussreise über 1800 Kilometer von Wien nach Nizza. Am ersten Paar zerreisst das Oberleder nach fünfzig Wandertagen, beim zweiten ist die Schuhsohle am Schluss so abgelaufen, dass ich an der Strandpromenade in Nizza schräg auf den Füssen stehe. Zusammen mit einer Gruppe von Wandersleuten habe ich diese Reise unternommen und mich einen Sommer lang mit dem grössten Gebirge Westeuropas beschäftigt. In diesem Gebirgsraum haben wir sieben verschiedene Landschaften typisiert und uns gefragt: Wie verändern sich die Alpen? Was sind die markanten Unterschiede zu 1992, als ich die Strecke mit der damaligen Gruppe Transalpedes siehe "Von Wien nach Nizza" zum ersten Mal gewandert war?

Die Freizeitlandschaft oder überall mehr vom selben

Über weite Strecken prägt die Freizeitlandschaft den Alpenraum. In der Fläche unübersehbarer als vor 25 Jahren sind die grösseren und kleineren Skigebiete mit ihren quadratkilometerweise planierten Pisten, Liften, Sechser- und Achter-Gondeln, Batterien von Schneekanonen und Speicherseen. Und es wird weiter aufgerüstet: In der Amadé-Skiarena zwischen der Steiermark und Salzburg erfuhren wir, dass in den letzten Jahren Hunderte von Millionen Euro in Verbindungsbahnen und Schneekanonen investiert worden sind. Dabei liegen die Skigebiete auf nur gut 2000 Meter über Meer. Im Unterschied zu 1992 treffen wir auch auf mehr in die Gegend gepflanzte Zweitwohnungssiedlungen. Auch in der Schweiz wird munter weitergebaut trotz Zweitwohnungsinitiative.

Die Landwirtschaft wird biologisch

Wir passieren gepflegte Wiesen mit weidendem Vieh, Berghänge mit historischen Ackerterrassen, manchmal auch wieder mit Getreideanbau: Trotz Schwanengesängen und Drohbildern ist die Landwirtschaft im ländlichen Raum wichtig und zukunftsfähig. Deutlich häufiger als 1992 werden die Bauernbetriebe biologisch geführt, wie in der steirischen Ramsau, wo sich zwölf Bauern- und Hotelbetriebe zu den "Ramsauer Bionieren" zusammengeschlossen haben, oder im Puschlav mit der Kooperation "100 % Valposchiavo". Im Veltlin und im Wallis wecken Weine unser Interesse, die mit Rücksicht auf die Topografie angebaut werden und die Landschaften so markant prägen. Trotz der grossen Veränderungen in der Landwirtschaft: Die biologische Berglandwirtschaft hat eine Zukunft. Bemerkenswert ist denn auch, wie sich die Land- und die Genusswirtschaft zusammengeschlossen hat. Entlang der langen Wanderung werden immer mehr lokale und regionale Nahrungsmittel von den Bauern produziert, von den Käsern, Metzgern und Bäckern veredelt und von den Köchinnen in Gastwirtschaften als Köstlichkeiten aufgetischt.

Die Energielandschaft mit Kleinkraftwerken

Die Alpen als Stromlieferantin Europas produzieren eine Energielandschaft. Kaum ein alpines Tal ohne Staumauer und Speicherbecken, wir sehen kaum einen nicht gestauten Fluss. Viele dieser Bauwerke sind alt, seit 1992 sind wenige neue dazugekommen. Zur Energielandschaft gehören auch die Freileitungen mit ihren sechzig Meter hohen Masten, die die Berglandschaften durchtrennen, etwa die im Goms und im französischen Durance-Tal neu erstellten Trassen. Zudem setzen die Gemeinden immer mehr Kleinkraftwerke an ihre Bäche und Flüsse. Die Investitionen sind politisch gesteuert, das heisst, der ökonomische Sinn ist nicht für jedes Kleinkraftwerk gegeben, oft fordert die Stromlieferung der kleinen Turbine einen hohen Preis an Landschaftszerstörung.

Die Klimalandschaft der stürzenden Berge

Schmelzende Gletscher und früh ausgeaperte Berghänge sind das Merkmal der Klimalandschaft – sie ist die Folge der grossen Veränderung, weil unser Lebensstil das Klima aufheizt. Wir beobachten sie an der Pasterze am Grossglockner, am Rhonegletscher und im Montblanc-Gebiet. Bergstürze und Murgänge wie jene in der Bondasca sind in den Alpen nichts Neues, sie werden aber weniger vorhersehbar und grösser. Wir kommen an vielen aufwendigen Schutzbauten vorbei, mit denen Bäche und Flüsse zubetoniert werden. An einigen Orten treffen wir aber auch auf grossräumige Flussrevitalisierungen, wie an der Möll in Osttirol.

Die Transitlandschaft der neuen Bandwürmer

Die Transitlandschaft begegnet uns mit ihren Expressstrassen und Schnellbahnen wie ein Bandwurm. Sie ist seit 1992 sichtbar, riechbar und hörbar gewachsen. Zwischen Wien und Nizza passieren wir neun grosse Transitachsen, zumeist in den grossen Alpentälern, wo viele Menschen von den Immissionen betroffen sind. Nur in der Schweiz sind dank der Alpeninitiative ernsthafte Anstrengungen zur Verlagerung des Transitgüterverkehrs auf die Schiene im Gang. An einigen Orten sind Basistunnels für neue Hochgeschwindigkeitsstrecken in Vorbereitung, wie am Fréjus zwischen Frankreich und Italien. Und es werden zusätzliche Expressstrassen durch die Alpen geplant, wie die Alemagna zwischen München und Venedig oder jene über den Tendapass in den Seealpen.

Die wachsende Stadtlandschaft

Die Stadtlandschaft umfasst die Kernstädte mit ihren pulsierenden historischen Zentren, umgeben von wachsenden Siedlungsgürteln und ausufernden Agglomerationen. Hier steigt die Einwohnerzahl, während sie in den ländlichen Gegenden stagniert oder abnimmt. In Südtirol, im Unterwallis und in der savoyischen Tarantaise fällt uns besonders auf, wie schnell sich der urbane Siedlungsbrei ausbreitet. Die Täler werden zerschnitten und zersiedelt bis hinauf in bislang wenig berührte Bergdörfer. 

Gute Nachrichten aus der Parklandschaft

Pärke und Grossschutzgebiete sind vorwiegend naturnahe Gegenden, manchmal von Inseln neuer Wildnis durchsetzt. 25 Pärke besuchen wir und lernen von ihren Managern, wie sie einen sorgsamen Umgang mit der Alpenlandschaft pflegen. Darunter sind Nationalpärke wie das Gesäuse und die Hohen Tauern in Österreich, Stelvio in Italien und Mercantour in Südfrankreich. Vielversprechend scheinen uns die Initiativen der Naturpärke, die den Schutz der Alpenlandschaften mit deren nachhaltiger Nutzung verbinden wollen wie in der Steiermark, in Graubünden und im Wallis.

Eine neue Alpenpolitik

Alle sieben Alpenlandschaften kommen auch in den Schweizer Alpen vor. In den letzten 25 Jahren ist ihr Vorsprung in der Biolandwirtschaft und beim öffentlichen Verkehr gewachsen. Bei den Pärken haben die Eidgenossen auf das Niveau ihrer Nachbarn aufgeschlossen – auch wenn ein zweiter Nationalpark auf sich warten lässt. Problematisch sind die fortschreitende Zersiedelung, die anhaltende Aufrüstung der Skigebiete und der überbordende Freizeit- und Transitverkehr. Und es fehlen die Ideen, um die zunehmende Abwanderung aus den peripheren Alpentälern zu stoppen.
1992 besuchte die Transalpedes-Gruppe zahlreiche Bürgerinitiativen, die sich gegen neue Stauseen, Transitstrassen und Skigebiete wehrten. Viele dieser Pläne sind realisiert, einige schubladisiert. Die meisten Widerstandsgruppen aber sind verschwunden. Eine neue Generation Engagierter hat sie ersetzt. Sie rennen weniger gegen die Zerstörung an, sondern arbeiten und fördern – oft professionell – Projekte wie die Pärke oder neue Landwirtschafts- und Kulturinitiativen. Die Klimaerwärmung und der Landschaftsverschleiss führten uns auf der Wanderung aber drastisch vor Augen, wie wir die Alpen weiter zerstören. Seit 1992 haben die Verflechtungen zwischen den Alpenländern, der EU und der Welt stark zugenommen. Viele Fragen lassen sich nicht mehr in der Gemeinde, im Kanton oder im Bund lösen. Auch in den Alpen sind die Nationalstaaten abhängig von der internationalen Politik und einer global vernetzten Wirtschaft.
Für eine zukunftsfähige Entwicklung der Alpenlandschaften müssen wir fünf politische Postulate durchsetzen: Es braucht eine Klimapolitik, die auf fossile Energieträger verzichtet. Es braucht eine Berggebietsentwicklung, die sich an den Stärken der Alpen orientiert und die gesellschaftlichen und kulturellen Innovationen ins Zentrum stellt. Es braucht eine konsequent ökologisch orientierte Landwirtschaft. Es braucht eine Verkehrspolitik, die den Langsamverkehr und den öffentlichen Verkehr forciert. Und es braucht eine Raumordnung, die auf den sparsamen Umgang mit der Ressource Landschaft setzt.

Von Wien nach NizzaIm Sommer 2017 durchquerte eine Gruppe von Alpenfachleuten unter dem Titel "Whatsalp Wien–Nice 2017" den Alpenbogen zu Fuss von Wien nach Nizza – 25 Jahre nach der Gruppe Transalpedes. Entlang ihrer Route recherchierten und dokumentierten die Wandernden die Veränderungen der Alpenlandschaft. An 65 Ortsterminen diskutierten sie mit Akteurinnen und Akteuren vor Ort über Szenarien für die Zukunft. Mehr als 200 Mitwandernde begleiteten die Gruppe. Wichtigste Partner des Projekts "Whatsalp" waren die Alpen-Initiative und die Internationale Alpenschutzkommission Cipra.

Die Energielandschaft mit Kleinkraftwerken

Die Alpen als Stromlieferantin Europas produzieren eine Energielandschaft. Kaum ein alpines Tal ohne Staumauer und Speicherbecken, wir sehen kaum einen nicht gestauten Fluss. Viele dieser Bauwerke sind alt, seit 1992 sind wenige neue dazugekommen. Zur Energielandschaft gehören auch die Freileitungen mit ihren sechzig Meter hohen Masten, die die Berglandschaften durchtrennen, etwa die im Goms und im französischen Durance-Tal neu erstellten Trassen. Zudem setzen die Gemeinden immer mehr Kleinkraftwerke an ihre Bäche und Flüsse. Die Investitionen sind politisch gesteuert, das heisst, der ökonomische Sinn ist nicht für jedes Kleinkraftwerk gegeben, oft fordert die Stromlieferung der kleinen Turbine einen hohen Preis an Landschaftszerstörung.

Die Klimalandschaft der stürzenden Berge

Schmelzende Gletscher und früh ausgeaperte Berghänge sind das Merkmal der Klimalandschaft – sie ist die Folge der grossen Veränderung, weil unser Lebensstil das Klima aufheizt. Wir beobachten sie an der Pasterze am Grossglockner, am Rhonegletscher und im Montblanc-Gebiet. Bergstürze und Murgänge wie jene in der Bondasca sind in den Alpen nichts Neues, sie werden aber weniger vorhersehbar und grösser. Wir kommen an vielen aufwendigen Schutzbauten vorbei, mit denen Bäche und Flüsse zubetoniert werden. An einigen Orten treffen wir aber auch auf grossräumige Flussrevitalisierungen, wie an der Möll in Osttirol.

Die Transitlandschaft der neuen Bandwürmer

Die Transitlandschaft begegnet uns mit ihren Expressstrassen und Schnellbahnen wie ein Bandwurm. Sie ist seit 1992 sichtbar, riechbar und hörbar gewachsen. Zwischen Wien und Nizza passieren wir neun grosse Transitachsen, zumeist in den grossen Alpentälern, wo viele Menschen von den Immissionen betroffen sind. Nur in der Schweiz sind dank der Alpeninitiative ernsthafte Anstrengungen zur Verlagerung des Transitgüterverkehrs auf die Schiene im Gang. An einigen Orten sind Basistunnels für neue Hochgeschwindigkeitsstrecken in Vorbereitung, wie am Fréjus zwischen Frankreich und Italien. Und es werden zusätzliche Expressstrassen durch die Alpen geplant, wie die Alemagna zwischen München und Venedig oder jene über den Tendapass in den Seealpen.

Die wachsende Stadtlandschaft

Die Stadtlandschaft umfasst die Kernstädte mit ihren pulsierenden historischen Zentren, umgeben von wachsenden Siedlungsgürteln und ausufernden Agglomerationen. Hier steigt die Einwohnerzahl, während sie in den ländlichen Gegenden stagniert oder abnimmt. In Südtirol, im Unterwallis und in der savoyischen Tarantaise fällt uns besonders auf, wie schnell sich der urbane Siedlungsbrei ausbreitet. Die Täler werden zerschnitten und zersiedelt bis hinauf in bislang wenig berührte Bergdörfer. 

Gute Nachrichten aus der Parklandschaft

Pärke und Grossschutzgebiete sind vorwiegend naturnahe Gegenden, manchmal von Inseln neuer Wildnis durchsetzt. 25 Pärke besuchen wir und lernen von ihren Managern, wie sie einen sorgsamen Umgang mit der Alpenlandschaft pflegen. Darunter sind Nationalpärke wie das Gesäuse und die Hohen Tauern in Österreich, Stelvio in Italien und Mercantour in Südfrankreich. Vielversprechend scheinen uns die Initiativen der Naturpärke, die den Schutz der Alpenlandschaften mit deren nachhaltiger Nutzung verbinden wollen wie in der Steiermark, in Graubünden und im Wallis.

Eine neue Alpenpolitik

Alle sieben Alpenlandschaften kommen auch in den Schweizer Alpen vor. In den letzten 25 Jahren ist ihr Vorsprung in der Biolandwirtschaft und beim öffentlichen Verkehr gewachsen. Bei den Pärken haben die Eidgenossen auf das Niveau ihrer Nachbarn aufgeschlossen – auch wenn ein zweiter Nationalpark auf sich warten lässt. Problematisch sind die fortschreitende Zersiedelung, die anhaltende Aufrüstung der Skigebiete und der überbordende Freizeit- und Transitverkehr. Und es fehlen die Ideen, um die zunehmende Abwanderung aus den peripheren Alpentälern zu stoppen.
1992 besuchte die Transalpedes-Gruppe zahlreiche Bürgerinitiativen, die sich gegen neue Stauseen, Transitstrassen und Skigebiete wehrten. Viele dieser Pläne sind realisiert, einige schubladisiert. Die meisten Widerstandsgruppen aber sind verschwunden. Eine neue Generation Engagierter hat sie ersetzt. Sie rennen weniger gegen die Zerstörung an, sondern arbeiten und fördern – oft professionell – Projekte wie die Pärke oder neue Landwirtschafts- und Kulturinitiativen. Die Klimaerwärmung und der Landschaftsverschleiss führten uns auf der Wanderung aber drastisch vor Augen, wie wir die Alpen weiter zerstören. Seit 1992 haben die Verflechtungen zwischen den Alpenländern, der EU und der Welt stark zugenommen. Viele Fragen lassen sich nicht mehr in der Gemeinde, im Kanton oder im Bund lösen. Auch in den Alpen sind die Nationalstaaten abhängig von der internationalen Politik und einer global vernetzten Wirtschaft.
Für eine zukunftsfähige Entwicklung der Alpenlandschaften müssen wir fünf politische Postulate durchsetzen: Es braucht eine Klimapolitik, die auf fossile Energieträger verzichtet. Es braucht eine Berggebietsentwicklung, die sich an den Stärken der Alpen orientiert und die gesellschaftlichen und kulturellen Innovationen ins Zentrum stellt. Es braucht eine konsequent ökologisch orientierte Landwirtschaft. Es braucht eine Verkehrspolitik, die den Langsamverkehr und den öffentlichen Verkehr forciert. Und es braucht eine Raumordnung, die auf den sparsamen Umgang mit der Ressource Landschaft setzt.

Von Wien nach NizzaIm Sommer 2017 durchquerte eine Gruppe von Alpenfachleuten unter dem Titel "Whatsalp Wien–Nice 2017" den Alpenbogen zu Fuss von Wien nach Nizza – 25 Jahre nach der Gruppe Transalpedes. Entlang ihrer Route recherchierten und dokumentierten die Wandernden die Veränderungen der Alpenlandschaft. An 65 Ortsterminen diskutierten sie mit Akteurinnen und Akteuren vor Ort über Szenarien für die Zukunft. Mehr als 200 Mitwandernde begleiteten die Gruppe. Wichtigste Partner des Projekts "Whatsalp" waren die Alpen-Initiative und die Internationale Alpenschutzkommission Cipra.