Solidarität mit den Opfern der Flutkatastrophe im Indischen Ozean – was heisst denn jetzt Solidarität im Tourismus?
Vor dem Ausmass der Flutkatastrophe im Indischen Ozean fällt es uns schwer, die richtigen Worte zu finden, um unserer Trauer und Betroffenheit Ausdruck zu geben und gleichzeitig auf die vielen Fragen einzugehen, die jetzt an uns herangetragen werden. Die Flutwelle vom 26. Dezember riss mehr als 160’000 Menschen in den Tod, hinterliess eine halbe Million Menschen verletzt und fünf Millionen obdachlos. Ganze Küstenstriche von Indien, Indonesien, Sri Lanka, Thailand oder Ostafrika sowie Inseln der Malediven, Andamanen und Nikobaren sind verwüstet – die Paradiese unzähliger Feriensuchender wurden zerstört und mehr noch: die Lebensgrundlagen von Millionen Fischer- und Bauernfamilien in den Küstenregionen auf einen Schlag vernichtet.
Das Ausmass der Zerstörungen durch den Tsunami vom 26. Dezember ist unfassbar und bei weitem noch nicht in allen betroffenen Gebieten auch wirklich erfasst. Vielerorts wird erste Hilfe effektiv erbracht, aber nicht überall. Gleichzeitig rollt bereits eine noch nie dagewesene Flut von Hilfs- und Spendengeldern auf die betroffenen Regionen zu, wo die Menschen oft noch unter Schock stehen und kaum Gedanken über ihr künftiges Leben und die Entwicklung ihrer Gemeinschaften anstellen können. Lautstark wird die Forderung nach einem schnellen Wiederaufbau des Tourismus erhoben, wo immer Regionen, ganze Länder gar, stark von diesem Wirtschaftszweig abhängig sind. Die Tourismusindustrie ruft zur internationalen Solidarität auf, während Reisende in den westlichen Entsendeländern hin- und hergerissen sind, ob Ferien in den betroffenen Gebieten jetzt überhaupt angebracht und möglich sind. Was heisst denn jetzt Solidarität im Tourismus?
In Absprache mit seinen Partnerorganisationen in Süd und Nord appelliert der arbeitskreis tourismus & entwicklung Basel an die internationale Gemeinschaft, die Schweizer Regierung und Behörden, Hilfswerke und Entwicklungsorganisationen, Medien, Tourismusindustrie sowie an Reisende:
nicht weiter „Tourismusdestinationen“, sondern die Menschen, die Hilfe am dringendsten benötigen, ins Blickfeld zu rücken
umgehend Klarheit über die Lage und Bedürfnisse der Menschen in nichttouristischen Gebieten – insbesondere auch in Burma, den Andamanen und Nikobaren sowie in Somalia – zu schaffen und die notwendige Hilfe für sie einzuleiten
nachhaltige Hilfe in erster Linie den Menschen zukommen zu lassen, die sie am meisten nötig haben – in den vom Tsunami betroffenen Regionen ebenso wie in andern Krisengebieten der Welt
sich für faire Rahmenbedingungen der internationalen Zusammenarbeit, einen umfassenden Schuldenerlass und gerechte internationale Handelsbeziehungen einzusetzen, die eine nachhaltige Entwicklung erst ermöglichen
nicht einen überhasteten Wiederaufbau des Tourismus zu unterstützen, sondern bei jedem Projekt strikt klare Kriterien für einen umweltverträglichen, sozialverantwortlichen und partizipativen Tourismus einzuhalten im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung der gesamten Bevölkerung
die Frage, wieviel die einheimische Bevölkerung vom Tourismus profitiert, ultimativ vor jeden Entscheid einer Reise oder eine Unterstützung für ein Tourismusprojekt zu stellen
jetzt nicht Hotels oder ganze Tourismusdestinationen „fallen zu lassen“ bzw. „aus dem Angebot zu streichen“, sondern im Hinblick auf eine umwelt- und sozialverantwortliche Entwicklung des Tourismus verbindliche, langfristige und partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen
mit wahrhaftigen Berichterstattungen die Öffentlichkeit in den betroffenen Ländern wie auch weltweit regelmässig und langfristig über die Situation der vom Tsunami betroffenen Menschen und ihre Fortschritte, Bedürfnisse und Anforderungen zu informieren.
Hintergrund zur Frage: Was heisst denn jetzt Solidarität im Tourismus?
1) Nicht „Tourismusdestinationen“, sondern die Menschen, die Hilfe am dringendsten benötigen, ins Blickfeld rücken
Nicht zuletzt die Tatsache, dass auch mehrere Tausend westliche UrlauberInnen von der Flutkatastrophe heimgesucht wurden, hat dazu geführt, dass Berichterstattung und Nothilfe schnell zur Stelle waren, und weltweit eine noch nie dagewesene Welle der Solidarität und Spendebereitschaft ausgelöst. Die Regierungen und privaten Versicherungsgesellschaften in den wichtigsten Entsendeländern der TouristInnen haben den Betroffenen und Angehörigen der Opfer schnelle und unbürokratische Hilfe zugesagt – Versprechen, die nun eingelöst werden müssen. Doch hat der von den westlichen Medien dominierte Blick auf Reisende und Tourismusgebiete im Indischen Ozean auch bewirkt, dass notleidende Menschen und ganze Gebiete, die nicht im Tourismus involviert sind, oft erst viel später – zu spät für viele – Hilfe erhielten. Wenn überhaupt.
Grösste Besorgnis löst diesbezüglich das Schicksal der BewohnerInnen der Küstenregionen Burmas, der indischen Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren sowie der Küste Somalias aus. Tagtäglich werden wir mit Anfragen, zum Beispiel zur Lage in Burma, konfrontiert. Meldungen erreichen uns jedoch auch drei Wochen nach dem Seebeben nur spärlich; oft sind sie widersprüchlich und lassen einen akuten Notstand in vielen der betreffenden Gebiete befürchten.
In Burma gibt die Militärregierung offiziell eine Bilanz von 90 Todesopfern sowie schätzungsweise 5’000 bis 7’000 Obdachlosen an. VertreterInnen der burmesischen Demokratie-bewegung und von Flüchtlingsorganisationen im Grenzraum zu Thailand sprechen aufgrund von Augenzeugenberichten und mühselig zusammengetragenen Fakten aus verschiedens-ten Dörfern und Inseln im Süden Burmas von mindestens 400 Toten und 30’000 Menschen, die Soforthilfe benötigten. „Democratic Voice of Burma“ (DVB), eine von burmesischen Journalisten im Exil betriebene Medienstelle, vermutet anhand ihrer Informationsquellen gar, dass mehr als Tausend Menschen in Burma der Flutwelle zum Opfer gefallen seien sowie mehrere Zehntausend ihre Häuser und Existenzgrundlagen verloren hätten. Besonders betroffen wurden offenbar die als „sea-gypsies“ (See-Zigeuner) bezeichneten Indigenen, die vornehmlich Inseln und Küsten im Süden Burmas wie auch im benachbarten Thailand bewohnen. Zwar hätten US-amerikanische Satellitenaufnahmen wenig Schäden in Burma dokumentiert; das scheint aber angesichts der grossen Verwüstungen im Norden Thailands, etwa im Touristenresort Khao Lak, das ja bloss knapp 200 Kilometer von der Grenze entfernt ist, wenig glaubhaft. Doch die burmesischen Militärmachthaber verunmöglichen offensichtlich, dass westliche BerichterstatterInnen sich ein Bild der Lage machen und Hilfsgüter herbeigebracht werden können. Dringend Hilfe und Unterstützung benötigen zudem die BurmesInnen in den vom Tsunami betroffenen Gebieten Thailands. Fachleute schätzen, dass rund 70’000 Menschen aus Burma entlang der thailändischen Küste als WanderarbeiterInnen im Tourismus tätig waren oder als Flüchtlinge und Illegale eine prekäre Existenz fristeten. Viele von ihnen haben in der Flutwelle alles verloren und werden, wenn sie jetzt Hilfe suchen, von den thailändischen Behörden zum Teil ohne weitere Abklärungen nach Burma zurückgeschafft.
Unklarheit herrscht weitgehend auch über das Schicksal der InsulanerInnen der Andamanen und Nikobaren. Der Archipel wird von der indischen Regierung als Schutzzone für indigene Völker erachtet und ist deshalb für BesucherInnen teils gesperrt; in den letzten Jahren haben sich aber immer mehr indische Geschäftsleute auf dem Archipel niedergelassen. Die wenigen Meldungen aus den Andamanen und Nikobaren lassen befürchten, dass gerade die indigenen BewohnerInnen der Inselgruppe dringend auch internationale Hilfe benötigen, die sie jetzt ausgerechnet wegen den restriktiven Einreisebedingungen, die eigentlich zu ihrem Schutz erlassen worden waren, nicht erhalten. Die Nikobaren liegen sehr nahe am Epizentrum des Seebebens. Augenzeugen vermuten angesichts der Übflutungen und Verwüstungen, dass 10’000 Menschen auf den Nikobaren ums Leben gekommen seien und die meisten BewohnerInnen ihre Heimstätten oder ihre Existenzgrundlagen verloren hätten und nun akut von Cholera und anderen Epidemien bedroht seien. Evakuiert vom Archipel wurden vornehmlich westliche Reisende und indische HändlerInnen. Zudem sind offenbar auch überlebende BewohnerInnen der Nikobaren nördlich auf die Andamanen gebracht worden, wo allerdings in den Flüchtlingslagern schlimme Zustände herrschten, wie Anthropologen, die seit Jahren im Archipel recherchieren, berichten. Ab und zu geistert eine kleine – so hoffnungsfrohe wie fragwürdige – Meldung über die Medienagenturen, ein schon vermisst ge-glaubter Volksstamm auf den Andamanen habe die Flut unbeschadet überstanden, weil die Indigenen Alarmsignale der Natur noch wahrzunehmen und sich frühzeitig in Sicherheit zu bringen vermochten. Auf den Andamanen und Nikobaren leben indigene Völker, die bislang wenig Kontakt zur Aussenwelt hatten. Ihnen scheint es zur Zeit an allem zu fehlen, an Gesundheitsversorgung, sauberem Trinkwasser, Kleidern. Was – so fragt man sich bange – wird jetzt aus ihnen?
Ebenso in Somalia, wo sich viele Menschen auf der Flucht vor den Bürgerkriegswirren an der Küste niedergelassen hatten. Als sich das Wasser unmittelbar vor der Tsunami-Flutwelle weit zurückzog und dabei reiche Fischgründe und Hummer preis gab, stürzten sich, Medienberichten zufolge, Tausende von Menschen auf die begehrten Meeresressourcen und fanden in der Flutwelle den Tod. Ihre Boote und oft auch ihre Behausungen wurden zerstört. Die Hilfe für sie läuft nur sehr harzig an.
2) Nicht überhastet den Tourismus wieder aufbauen, sondern nachhaltige Hilfe in erster Linie den Menschen zukommen lassen, die sie am meisten nötig haben und jedes Projekt nach klaren wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kriterien ausrichten, welche die Partizipation und nachhaltige Entwicklung der breiten Bevölkerung ermöglichen
Die Flutwellenkatastrophe hat weltweit eine bislang noch nie erreichte Bereitschaft zum Helfen und Spenden ausgelöst. Bis dato sind annähernd 4 Milliarden US Dollar an offizieller Hilfe zugesagt und schätzungsweise doppelt so viel an privater Hilfe bereitgestellt worden. Zweifellos gibt es dabei fragwürdiges, gewisse Spendenaufrufe, Motivationen von privaten SpenderInnen, Staaten, die sich mit Hilfsversprechen konkurrenzieren. Sicher kann man auch einwenden, dass die USA noch immer ein Vielfaches ihrer Hilfszusagen für die Tsunami-Opfer im Namen ihres Krieges im Irak und gegen den Terrorismus aufwenden. Dennoch, die weltweite spontane Hilfsbereitschaft ist absolut beeindruckend – die Indianer aus Nordamerika, die den Indigenen im Indischen Ozean zu Hilfe kommen wollen, ebenso wie all die Kinder, die jetzt ihr Sparschwein zerschlagen, oder Mosambik, das als eines der ärmsten Länder der Welt genau wie das als „Schurkenstaat“ abgestempelte Nordkorea jetzt Hilfsgelder bereit stellt. Die Tsunami-Katastrophe hat eine Solidarität geweckt, die nicht nur notwendig ist, sondern auch Hoffnung macht, und sie ist ein Zeichen des Vertrauens in die Sammelorganisationen, letztlich in die Weltgemeinschaft, dass auch schlimmste Katastrophen bewältigt werden können. Auf dass die Gelder, im Gegensatz zu früheren Versprechen, denn auch wirklich überwiesen werden und ans richtige Ort gelangen, nämlich zu den Menschen, die Hilfe am meisten nötig haben.
Was aber können angesichts dieser Flut von Hilfsgeldern Gemeinden, lokal oder regional verankerte Gemeinschaften und Organisationen tun, um die Interessen der Einheimischen zu wahren? Die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung geltend zu machen und ihre Partizipation bei den Entscheiden über die künftige Entwicklung zu gewährleisten, was – anerkanntermassen – die Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist? Der Hilfsgeld-Segen kann für die noch unter dem Schock der Flutwelle stehenden Betroffenen schnell zum Alptraum werden. Unter dem massiven Druck der Abhängigkeit vieler betroffener Länder vom Tourismus und der jetzt plötzlich verfügbaren Gelder werden Hilfe und Investitionen, so befürchten Entwicklungsexperten, in erster Linie dahin fliessen, wo sie am schnellsten am meisten Ertrag bringen – in den Tourismus, der allenthalben jetzt wieder zum Entwicklungs-motor heraufstilisiert wird. Wie wenn es, gerade in den vom Tsunami betroffenen Gebieten, nicht unzählige Beispiele dafür gäbe, dass der Tourismus im Gegenteil zur Verarmung der lokalen Bevölkerung und zu ihrer Marginalisierung geführt hat: Bauern haben ihr Land, Fischer den Zugang zum Strand verloren, Familien verarmten, weil ihre Einkommen mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten in Tourismusgebieten nicht Schritt halten konnten, Frau-en und Kinder wurden der Ausbeutung preisgegeben und in die Prostitution gedrängt. Viele von ihnen zählen zu den ärmsten Bevölkerungsschichten, die jetzt am härtesten von den Flutwellen getroffen wurden.
Zudem hat die ungestüme Entwicklung der exportorientierten Wirtschaftszweige in den Küstenzonen, namentlich der Tourismus und die Krevettenzuchten, nachweislich dazu geführt, dass sich die Flutwelle in vielen Gebieten so katastrophal ausgewirkt hat. Nicht allein die Natur, sondern auch die von Menschen verursachten Fehlentwicklungen führten letztlich zu dieser Katastrophe. Denn zahlreiche der jetzt überfluteten Küsten waren nicht von ungefähr so lange „unberührte Paradiese“. Gerade wegen ihrer Verletzbarkeit wurden sie von den Einheimischen nicht bebaut. Hotelanlagen direkt an den Stränden wie auch die vielen „Shrimp-Farms“ stellen eine erhebliche Belastung des Grundwassers im sensiblen Ökosys-tem des Küstenbereiches dar; die mit den Erschliessungen einhergehende Abholzung von Mangrovenwäldern und Zerstörung der Korallenriffe haben vielerorts zudem natürliche Schutzbarrieren zerstört. Sri Lanka hat jetzt eine Schutzzone von 300 Metern im Strandbereich erlassen, was allerdings bei betroffenen Fischern auch neue Besorgnis auslöst. Denn bereits werden Ausnahmeregelungen für die grossen Hotelkomplexe diskutiert. In Indien gilt im Prinzip bereits eine Schutzzone von bis zu 500 Metern im Strandbereich; sie wurde aber von internationalen Hotelkonsortien, beispielsweise in Goa, oft einfach übergangen, denn Strafen wurden kaum je ausgesprochen oder fielen äusserst milde aus. Nun haben in der Folge des Tsunami auch ganze Gemeinschaften ihre Existenzgrundlagen verloren, die gar nie direkt im Tourismus oder in den Krevettenzuchten involviert waren, nie von dieser „Küs-tenentwicklung“ profitiert haben und – vermutlich – auch gar nie dazu befragt worden waren.
Die „Asian Development Bank“ befürchtet in ihrem ersten Lagebericht von Mitte Januar, dass der Tsunami zwei Millionen Menschen zusätzlich in die Armut stürzen könnte. Die Katastrophe werde aber mittelfristig auch einen Wachstumsschub auslösen; Tourismus und Krevet-tenzucht sind mitunter Stichworte dafür. Auch die Welttourismusorganisation, die seit 2003 offiziell zur UNO-Sonderorganisation geworden ist, gibt sich zuversichtlich angesichts des Wachstums der Tourismusindustrie in asiatischen Ländern; die Tourismusindustrie sei über die letzten Jahre schon hart auf Bewährung gestellt worden und zeige trotz Finanzkrise, Terrorattentaten, SARS und Vogelgrippe hoffnungsvolle Aufwärtstrends. In einer ausserordentlichen Sitzung des „Executive Councils“ will die Welttourismusorganisation anfangs Februar im thailändischen Phuket mit Organisationen, Investoren und der Tourismuswirtschaft über die Bedürfnisse zum Wiederaufbau des Tourismus beraten. Unklar bleibt der Ankündigung, inwiefern auch VertreterInnen der Zivilgesellschaft, der breiten Bevölkerung der betroffenen Gebiete, zu dieser Beratung geladen sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie aussen vor gelassen würden. Zwar hat die Welttourismusorganisation, die sich aus Regierungen, Behörden und Tourismusindustrie zusammensetzt, jüngst auch ein Programm auf die Beine gestellt, wie mit dem Tourismus – immerhin dem wichtigsten Wirtschaftszweig der Welt – die Armut zu bekämpfen sei; dabei verweist sie auch ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Partizipation der Betroffenen. Doch das mit viel Aufwand lancierte Programm hat, über ein paar Lippenbekenntnisse hinaus, noch keine Wirkung gezeitigt. Indessen haben die meisten der vom Tsunami betroffenen Länder bereits zugesichert, den Tourismus schnell wieder aufzubauen. Kein Wunder, sind sie doch stark vom Tourismus abhängig. Unter diesem Druck bleibt wenig Raum für die jetzt notwendigen Diskussion darüber, was diese Abhängigkeit letztlich für die BewohnerInnen der betreffenden Länder bedeutet und wie verletzlich dieser Wirtschaftspfeiler vor Krisen und Katastrophen ist. Genau darüber aber könnten vielerorts Menschen aus betroffenen Gemeinden und PraktikerInnen aus Entwicklungsprojekten Auskunft geben und das Knowhow einbringen, wie Gemeinden – mit oder ohne Tourismus, aber unter Einbezug aller Betroffener – sich nachhaltig entwickeln und die Grundbedürfnisse aller BewohnerInnen befriedigen können, ohne Ressourcen zu plündern und Lebensgrundlagen zu zerstören.
Nachhaltig können sich aber auch die besten Initiativen nicht entwickeln, wenn die internationalen Finanz- und Handelsbedingungen keinen geeigneten Rahmen dazu bieten. Ein Schuldenmoratorium für die betroffenen Länder wurde jetzt erlassen, so dass auf der Entwicklung des Tourismus, der ja als Devisenbeschaffer und Exportindustrie gefördert wird, kurzfristig etwas weniger Druck lastet. Dennoch stehen Entwicklungsländer weltweit unter einem enormen Konkurrenzdruck im Tourismus. So unterbieten sie sich im Hinblick auf die Förderung der internationalen Reisegeschäfte laufend gegenseitig, um ausländische Investoren und Tourismusunternehmen mit möglichst günstigen Bedingungen ins Land zu locken, zum Beispiel Steuerfreiheit auf zehn bis zwanzig Jahre hinaus, freien Rücktransfer der Gewinne sowie Erschliessung mit Strassen, Strom etc. Unter dem Strich bedeuten diese „Anreize“ eine grosszügige Subvention der Tourismusländer bzw. ihrer Steuerzahler an das Ferienvergnügen der ausländischen Gäste und an die ausländischen Tourismusunternehmen. Nun soll der Spielraum von privaten Unternehmen noch erweitert werden, fordern doch die Industrieländer bei den derzeit im Rahmen der Welthandelsorganisation laufenden Verhandlungen über die Dienstleistungen, zu denen auch der Tourismus gehört, von den Entwicklungsländern weitere Marktöffnungen und Liberalisierungen wie etwa die Möglichkeit von ausländischen Mehrheitsbeteiligungen an Tourismusunternehmen. Dabei wird jedoch der Gestaltungsraum entscheidend beschnitten, den Gemeinden und Gastregionen haben, um den Tourismus auf die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung auszurichten, zum Beispiel wenn sie soziale und ökologische Zulassungsstandards oder Auflagen für die Beschäftigung und Ausbildung von einheimischen Angestellten erlassen oder wenn sie ökologische Belastungsgrenzen und Bestimmungen zum Schutz der Umwelt festsetzen möchten. Not-wendig ist deshalb jetzt, die Verhandlungen über weitere Liberalisierungen im Weltmarkt und insbesondere im Dienstleistungsbereich Tourismus zu stoppen, bis das Ausmass der Tsunami-Folgen klar ist und die betroffenen Länder sich mit ihrer Bevölkerung darüber Klarheit verschafft haben, welche Regulierungen und Gesetze sie für einen nachhaltigen Wiederauf-bau benötigen.
Es bleibt allerdings äusserst problematisch für die Weltgemeinschaft, wenn diese Katastrophe, weil sie auf einen Schlag Tod und Verwüstung von Südostasien bis nach Ostafrika gebracht hat, solch bedeutende Hilfszusagen und Sonderkonditionen für die Betroffenen auslöst, während andere, oft „schleichende“ Katastrophen – Bürgerkriege, Aids oder allein schon Tuberkulose, die weltweit jährlich 1,8 Millionen Menschenleben fordert, eine Krankheit notabene, die durchaus heilbar wäre – niemals eine vergleichbare internationale Solidarität hervorrufen. Und würden wir schon nur die jetzt vom Tsunami betroffenen Länder während eines Jahres mit der selben Aufmerksamkeit verfolgen, wie wir sie zur Zeit aufbringen, würden wir Zeugen einer noch schrecklicheren, aber zeitlupenartig ablaufenden Tragödie: In den Ländern rund um den Golf von Bengalen sterben jährlich mehrere Millionen Menschen, weil sie kein sauberes Trinkwasser haben. Vor dem Schicksal jedes einzelnen Betroffenen geht es nicht an, „Katastrophen“ gegeneinander auszuspielen. Ein Schuldenmoratorium für die vom Tsunami betroffenen Länder ist denn auch keine Lösung; es mutet vielmehr wie ein „Zückerchen“ an, das die reichen Industrieländer jetzt schnell und ohne grosse Verluste für sie aus dem Ärmel zaubern, um die Schuldenproblematik nicht grundsätzlich angehen zu müssen. Obwohl längst Vorschläge für eine gerechte umfassende Schuldenstreichung wie die HIPC-Initiative für die „heavily indebted poor countries, die meist verschuldeten Länder der Welt, auf dem Tisch liegen. Die unter dem Eindruck der Flutwellenkatastrophe grosszü-gig erbrachten Hilfsgelder können auch nicht an die Stelle eines langfristigen Engagements der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern treten. Doch genau dieses ist ge-fährdet, weil derzeit in vielen westlichen Industrieländern im Rahmen der Sparmassnahmen kräftig am offiziellen Entwicklungsbudget gesägt wird, was im Übrigen auch die Erreichung der Milleniumsziele zur Reduzierung der weltweiten Armut, die sich alle auf ihre Fahnen geschrieben haben, in Frage stellt.
Die Tsunami-Katastrophe, so schrecklich sie als solche auch ist, reiht sich ein in eine nicht mehr abreissende Serie von Katastrophen, welche die strukturelle Not der Ärmsten und Benachteiligten dieses Planeten offenlegen. Diese ist nicht mit Adhoc-Solidaritätsaktionen zu lindern, gefordert sind vielmehr dauerhafte Lösungen, die nur mit einem konsequenten politischen Einsatz für eine weltweit gerechtere Wirtschaftsordnung zu erreichen sind. Zu hoffen ist, dass die enorme Solidarität der internationalen Gemeinschaft, die der Schock der Flutwelle vom 26. Dezember ausgelöst hat, dazu beiträgt, über die Flutkatastrophe hinaus mehr Verständnis für die Benachteiligten entwickeln und damit auch einer Solidaritäts-Politik zu Gunsten der Benachteiligten Auftrieb zu geben.
3) Jeden Entscheid für Reisen und Geschäfte im Tourismus an der Frage messen, wieviel der Tourismus der einheimischen Bevölkerung bringt, wie sie dabei ihre Rechte wahrnehmen kann und wie ihre Lebensgrundlagen geschont werden – jetzt die Weichen für eine umweltverträgliche und sozialverantwortliche Entwicklung stellen und dafür, auch im Tourismus, verbindliche, langfristige und partnerschaftliche Beziehungen aufbauen
Viele Reisende stehen jetzt vor dem Dilemma, ob sie einen bereits gebuchten Urlaub in einem vom Tsunami betroffenen Gebiet antreten sollen oder nicht. Viele Reiseveranstalter sind bemüht, möglichst im Interesse der KonsumentInnen Informationen und Entscheidungsgrundlagen zu erbringen und Hand für Annullationen und Umbuchungen zu bieten. Gleichzeitig appellieren die Tourismusindustrie und die Tourismusbehörden der von der Flutwelle betroffenen Länder lautstark an die Solidarität der westlichen Reisekundschaft, die Krisengebiete jetzt nicht im Stich zu lassen. Wie sollen KonsumentInnen entscheiden? Was heisst denn jetzt Solidarität? Für die Reisenden? Für die Reisebranche? Die Frage ist nicht einfach.
Sicher sind längst nicht alle Hotelanlagen und touristischen Infrastrukturen in den betroffenen Ländern in Mitleidenschaft gezogen. Vielerorts bemühen sich die GastgeberInnen fieberhaft, Schäden schnell zu beheben und den Gästen trotz allem einen guten Empfang zu bereiten. Hinfahren kann jetzt auch ein Zeichen der Solidarität sein. Eine Ferienreise in ein Katastrophengebiet bleibt dennoch problematisch. Die Reisenden sind gefordert, sich über die Situation im Zielgebiet ein klares Bild zu machen und die eigenen Ansprüche zurückzustecken: Wie lebt die Bevölkerung? Kann ich sicher sein, dass ich als TouristIn nicht eine zusätzliche Belastung darstelle? Nicht bevorzugt etwa mit Trinkwasser beliefert werde, während es den Einheimischen an allem mangelt? Nicht hinfahren kann jetzt ebenso ein Zeichen der Solidari-tät sein. Allerdings nur dann, wenn sich die Solidarität mit den Betroffenen andersweitig kon-kret äussert, zum Beispiel im Urlaub kürzer zu treten und das gesparte Geld zu spenden, sich weiter über die Lage im betreffenden Gebiet zu informieren, allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt hinzureisen. Einfach annullieren und auf ein anderes „Ferienparadies“ umbuchen, ist jetzt mit Sicherheit keine angemessene Antwort.
Genauso problematisch ist es, wenn Reiseveranstalter jetzt beschädigte Anlagen und ganze Reiseangebote einfach ersatzlos aus dem Programm streichen. Haben denn die lokalen An-bieterInnen zur Zerstörung hinzu nun auch noch in Kauf zu nehmen, dass die von den Veranstaltern für die Saison vertraglich zugesicherten Einnahmen ersatzlos gestrichen werden? Erhalten sie eine Entschädigung? Oder bieten die Tour Operators Hand für den Wiederaufbau von Anlagen? Und was ist mit den Beschäftigten im Tourismus? Sorgen gerade die mächtigen integrierten und multinationalen Konzerne dafür, dass ihre Angestellten genügend versichert sind oder andersweitig im Konzern zum Einsatz kommen? Und was ist mit den unzähligen Menschen – den Souvenirhändlerinnen, den Taxidrivers, den Guides etc.? Wovon leben sie, bis sie wieder im Tourismus arbeiten können? Sie alle erwirtschaften im Tourismusgewerbe bekanntlich nicht gerade Einkommen, die ihnen eine längere Zeit ohne Erwerb erlauben würde? Fragen über Fragen stellen sich dabei bezüglich der Verantwortung der Tourismusunternehmen: Wie solidarisch sind sie in der Krise ihren Geschäftspartnern und Angestellten gegenüber?
Kein Zweifel, viele Angestellte von westlichen Tourismusunternehmen haben in der Krise enormes geleistet, um Notleidenden zu helfen. Kein Zweifel auch, dass viele Reiseveranstalter Einkommenseinbussen zu verkraften haben, die sie angesichts der billigen Reiseangebote und schmalen Margen im Geschäft vermutlich schlecht wegzustecken vermögen. Es kann aber jetzt nicht damit getan sein, einfach eine Sammelbüchse auf den Schalter zu stellen und weiter an die Solidarität der Reisenden zu appellieren, während man allfällige Einbussen im Asiengeschäft möglichst schnell mit dem Verkauf anderer „Destinationen“ zu kompensieren versucht. Ein nachhaltiger Tourismus, wie ihn sich die Tourismusanbieter gern auf die Fahne schreiben, beruht auf verbindlichen, langfristigen und fairen Geschäftsbeziehungen mit den PartnerInnen in den Zielgebieten. Die Tsunami-Katastophe zeigt, wie dringlich der Aufbau von solch partnerschaftlichen Beziehungen im Tourismusgeschäft ist.
Tragisch ist allerdings, dass erst die Flutwellen-Katastrophe grundsätzliche Fragen zur Ethik im Tourismus aufs Tapet bringt: Die Bilder der wohlgenährten biertrinkenden Touristen, die sich am thailändischen Badestrand vergnügen, während im Hintergrund Bulldozer Leichen und Trümmer wegräumen, lösten in der breiten Öffentlichkeit Abscheu, moralische Entrüstung und heftige Debatten aus. Bei den abgebildeten Männern handelte es sich, wie sie später klarstellten, um Touristen, die sich mit selbstlosem Einsatz an den Aufräumarbeiten beteiligt hätten und in einer Verschnaufpause abgelichtet worden wären. Offensichtlich aber vermögen solche Bilder erst vor dem Wissen um die akute Katastrophe zu schockieren, wo doch eigentlich auf jeder Fernreise wohlgenährte westliche TouristInnen ihrem Ferienvergnügen nachgehen, während die einheimische Bevölkerung oft gleich daneben in absoluter Armut lebt.
Moralische Entrüstung hilft da wenig. Vielmehr geht es um die Frage, ob und was der Tourismus beitragen kann, Armut effektiv zu verringern und der breiten Bevölkerung in den touristischen Gebieten ein Leben in Würde zu ermöglichen. Was bringt der Tourismus den Einheimischen, ob sie nun direkt im Reisegeschäft tätig oder nur indirekt davon betroffen sind? Welche Angebote, welche Reiseform wählen, damit die Gastbevölkerung einen möglichst grossen Nutzen davon hat? Das sind die Fragen, die sich jeder Reisende und jedes Reiseunternehmen stellen muss, und dies nicht erst seit dem Tsunami. Gefragt ist eine Solidarität, die über die Träume vom „Ferienparadies“ und über die unmittelbaren Geschäftsinteressen hinaus geht. Und die sich in einem langfristigen Interesse für das Schicksal der Menschen äussert, die im Tourismusgebiet wohnen. Eine Solidarität, die auch dann noch lebendig ist und Bestand hat, wenn die Ferien längst vorbei sind und Katastrophen keine Schlagzeilen mehr machen.
Christine Plüss, akte