Mit siebzehn verliess Selma die Schule. Sie hangelte sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. In einem Diplom oder einem Abschluss konnte sie keinen Wert erkennen, nicht für die Gegenwart und nicht für die Zukunft. Sie lebte von Tag zu Tag und hoffte, irgendwie über die Runden zu kommen.

Startschwierigkeiten überwinden

Mittlerweise ist die junge Frau 22 Jahre alt und hat einen anderen Blick auf ihr Leben gewonnen. Sie möchte sich etwas erarbeiten, etwas lernen, das ihr eine Zukunft in Unabhängigkeit ermöglicht. Und sie möchte ihren Eltern, welche in bescheidenen Verhältnissen leben, nicht mehr auf der Tasche liegen. Findet Selma einen Weg aus ihrer Perspektivenlosigkeit? Die Arbeitssituation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Marokko ist generell schwierig. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und auch ein Schulabschluss ist noch lange kein Garant dafür, eine Arbeitsstelle zu finden. Vor allem junge Menschen aus sozial benachteiligten Vierteln, Aussenquartieren und Vororten der grossen Städte haben es schwer, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Erschwerend kommt hinzu, dass es die starren Rollenbilder auch heute noch verhindern, dass sich junge Frauen* und Männer* persönlich und beruflich nach ihren Vorstellungen entfalten können.

Den Teufelskreis von schlechten Schulerfahrungen, mangelndem Selbstbewusstsein, geringen Jobaussichten, unzureichendem Einkommen und verlorenem Glauben an Veränderbarkeit durchbricht das cfd-Projekt Bidaya – Neubeginn. Junge Menschen zwischen 18 und 26 Jahren erhalten die Möglichkeit, einen Beruf zu lernen und sich auch persönlich weiterzuentwickeln. Sie werden bei der Stellensuche oder bei der Gründung eines Kleinunternehmens unterstützt.  

Neubeginn in bedürfnisgerechten Schritten

Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, die berufliche Eingliederung von Jugendlichen ohne Schulabschluss in den Arbeitsmarkt zu fördern. Zudem setzt sich das Projekt für die berufliche Gleichstellung von Frauen* und Männern* und gegen Gewalt an Frauen* ein. Um ihre Chancen für den beruflichen Einstieg zu steigern, lernen die Jugendlichen in Kursen, wie sie selbstsicherer auftreten und kommunizieren, ihr Arbeitsverhalten verbessern und ein Selbstverantwortungsgefühl entwickeln. In Diskussionen wird frei über Geschlechterbilder und Gewalt diskutiert.

Nach dem motivierenden ersten Schritt absolvieren die Teilnehmer*innen Praktika in externen Unternehmen oder lernen in den internen Werkstätten, eng begleitet durch die Partner*innenorganisation, die Berufswelt kennen. So werden ihre Kenntnisse individuell gefestigt und erweitert. In den Lernwerkstätten arbeiten die jungen Frauen* und Männer* in den Bereichen Küche und Patisserie, Lieferung und Schneiderei. Sie werden auch an Arbeiten wie selbständige Akquise von Aufträgen, Administration, Marketing und Buchhaltung herangeführt und übernehmen darin nach und nach mehr Verantwortung.  

Gerüstet für die Zukunft

So sind die Jugendlichen bereits auf dem besten Weg, die Gründung eines eigenen Kleinunternehmens selbstbewusst in Angriff zu nehmen. Die Jugendlichen vertiefen sich in die Kenntnisse des Projektmanagements und erarbeiten Businesspläne für ihre Geschäftsideen. Selma El Ghazali beispielsweise verwirklichte hier ihren Traum aus der Kindheit. Sie lernte das Nähen der traditionellen marokkanischen Haute Couture und erweiterte ihre Fähigkeiten in gemischten Nähtechniken, um ganz nach dem Geschmack der Jungen von heute Mode zu kreieren. "Seit ich im Projekt Bidaya dabei bin, fühle ich mich als richtige Näherin. Ich habe Freude an der Arbeit und habe gemerkt, dass ich mehr aus mir machen kann. Das gibt meinem Leben einen ganz anderen Sinn. Ich habe Wünsche für meine Zukunft", erzählt Selma. Mit der ersten selbstgestalteten Djellaba (traditionelles Gewand mit Kapuze) kam der Stolz und die Freude am Entwickeln weiterer Ideen für T-Shirts und Bademode.

Auch der gleichaltrige Ismail Bengassi entwickelte dank der erworbenen Kompetenzen im Projekt bereits eine Geschäftsidee: Er möchte ein Mittagessen für Kinder anbieten, das er in Schulkantinen seiner Nachbarschaft verteilt. Der schüchterne junge Mann blickt nach jahrelangem Mobbing in der Schule und einer durchlittenen Depression zum ersten Mal wieder zuversichtlicher in die Zukunft. Die Schulzeit war für ihn von einer grossen Schwere geprägt und bestärkte sein Gefühl, niemand zu sein und niemals etwas aus seinem Leben machen zu können. Da sein Vater bereits pensioniert ist, steht er unter grossem Druck, Einkommen für die Familie zu erwirtschaften.

Im Projekt lernte er die Herstellung von Patisserie und bekam wertvolles Basiswissen in der Gastronomie vermittelt. Die Erfolgserlebnisse und das erworbene Fachwissen motivieren ihn, die Umsetzung seiner Idee anzupacken. Zudem hat er andere Jugendliche getroffen, die ähnlich schwere Zeiten durchgemacht haben. Die Gruppe ist wichtig und gibt jeder und jedem Einzelnen einen Platz. Gemeinsam erschaffen sie etwas, gemeinsam lernen sie und machen sich gegenseitig Mut.

Die Vermittlung beruflicher Perspektiven ist auch Präventionsarbeit

Bis Ende 2018 haben 46 Projektteilnehmer*innen bereits ein Praktikum absolviert und 17 junge Menschen haben eine Stelle gefunden (darunter 8 Frauen*). Sie sind beruflich eingegliedert. Eine Lernwerkstatt im Bereich Traiteur wurde gegründet und beschäftigt heute sechs Personen aus dem Projekt. Auch im Bereich Schneiderei und Näharbeiten wurde eine Werkstatt installiert, die seither sechs Personen – darunter fünf Frauen* – Arbeit bietet. Die Jugendlichen erhalten bei Bedarf psychosoziale Beratung und Begleitung. Das Projekt bietet Raum, um sie in ihren oft schwierigen Lebenssituationen kompetent und einfühlsam zu unterstützen. Insbesondere helfen auch die "Life Skills"-Module den Projektteilnehmer*innen immer wieder, Lösungen zu finden und Schwierigkeiten zu überwinden. Im Sommer 2018 hat der cfd eine Gender-Analyse im Projekt durchgeführt, um die verschiedenen Bedürfnisse und Ausgangslagen der jungen Frauen* und Männer* noch besser kennen zu lernen und in der zukünftigen Projektphase spezifischer auf diese eingehen zu können.

Allen Schwierigkeiten und Herausforderungen zum Trotz ist es gelungen, in nur einem Jahr dutzende junge Menschen, die den Glauben an sich und ihre berufliche Zukunft noch nie hatten, für etwas zu begeistern. Sie sehen, dass es im Leben verschiedene Optionen und Wege gibt und man im Kleinen anfängt, um etwas zu verändern. Nicht zuletzt bedeutet der Zugang zu Arbeit und Ressourcen auch Präventionsarbeit. Berufliche Perspektiven und ein geregeltes Einkommen verhindern, dass junge Menschen in die Kriminalität abrutschen oder sich fundamentalistischen Kreisen anschliessen und sich radikalisieren.

Für Selma und Ismail ist Bidaya ein Sprungbrett ins Leben. Das Projekt hat ihnen das Werkzeug in die Hand gegeben, weiter an sich und ihren beruflichen Zielen zu arbeiten. Gibt man den jungen Menschen Perspektiven, so gibt man Marokko Perspektiven. Oder wie es Selma El Ghazali ausdrückt: "Ich wünsche allen Frauen* meines Landes, dass sie das Glück, den Mut und die Chance erhalten, um ihre Träume zu verwirklichen!"