fairunterwegs: "Stop building back tourism", fordern Sie: Warum sollte man aufhören, den Tourismus wiederaufzubauen?

Albert Salman: "Building back better" ist ein Slogan, der schon seit vielen Jahrzehnten von Leuten benutzt wird, die in der Regel eine Krise ausnutzen wollen. Sie erhoffen sich dadurch zum "business as usual" zurückkehren zu können, allerdings mit einem profitableren Geschäftsmodell.

Grosse Unternehmen und ‹Big Tech› erhalten inzwischen 90-95% der Einnahmen aus der Tourismuswirtschaft, während die lokalen Gemeinschaften im globalen Süden lediglich einen Bruchteil davon bekommen. Laut einer Recherche der UNEP (Umweltprogramm der UNO) bekommen lokale Gemeinschaften nur 5% von dem, was wir für eine Reise ausgeben.

Die Gemeinschaften in den Destinationen werden nicht gehört, sie haben keine Stimme. Touristische Entwicklung lassen die Preise in die Höhe schnellen, die Einheimischen leiden unter dieser enormen Preisinflation. Schauen Sie sich hierfür zum Beispiel das chinesische Modell in Sihanoukville in Kambodscha an – das ist vielleicht die schlimmste Art von Kapitalismus, die es gibt. Die Mieten und Lebensmittel werden immer teurer, die Einheimischen landen auf der Strasse und werden zu den Sklaven der Reichen, während die Touristen da sind, um Alkohol, Drogen, Rock’n’Roll und den Rest konsumieren. Grosse Unternehmen beuten lokale, oft schlecht geschützte Gemeinschaften durch den Tourismus aus; diese haben kaum eine Alternative, als sich dieser Entwicklung hinzugeben. So ein System sollte nicht wiederaufgebaut werden!  

Über Albert Salman

Der Niederländer Albert Salman ist Biologe, Gründer von Green Destinations, Mitgründer der Future of Tourism Coalition und Initiator des Good Travel Guide. Er arbeitet mit Vertretern von Reisezielen und Interessengruppen zusammen, um ihre Angebote nachhaltiger zu gestalten.

Der Good Travel Guide hilft Reisenden dabei, nachhaltige Angebote zu finden, die lokalen Gemeinschaften und die Umwelt respektieren.

Das sind klare Worte! Trotzdem schreibt die UNWTO zum Beispiel, dass der Tourismus 10 Prozent der Arbeitsplätze stellt. Es wird geschätzt, dass 100 bis 120 Millionen Menschen durch die aktuelle Krise ihre Arbeit in der Tourismusindustrie verloren haben. Wovon sollen diese Menschen leben?

Wir müssen anerkennen, dass die internationalen Finanzinstitutionen viele ländliche Ökonomien zerstört haben, indem sie ihnen unser westliches System von Import und Export aufgezwungen haben. Dadurch sind die sozialen Strukturen sowie die lokale Produktion zusammengebrochen. Das hat Arbeitsplätze gekostet! Die Lebenshaltungskosten sind in die Höhe geschnellt, weshalb die Menschen ihre Dörfer verlassen mussten, um für das wenige Geld, welches die Jobs im Tourismus bieten, fern von ihren Dörfern zu arbeiten. Die Jobs in der Tourismusindustrie sind oft unterbezahlt und nahe an der Sklaverei.

Als Beispiel: Nach der Tsunami-Katastrophe im indischen Ozean von 2004 hat sich vieles zum Schlechten gewendet. Die Malediven verhinderten, dass Tausende einheimische Fischerfamilien auf ihre Inseln zurückkehren konnten. Die Regierung und Investoren haben die Inseln beschlagnahmt, um dort High-End Tourismus Resorts erschaffen zu können. Dies nahm Arbeitsplätze weg, anstatt welche zu schaffen! Die Menschen aus den Fischerdörfern landeten in den Slums der maledivischen Städte und mussten dort in Armut und Kriminalität leben. Im selben Jahr hat die IFI (International Flood Initiative) der Regierung von Sri Lanka mitgeteilt, dass Tausenden von einheimischen Fischern an der Ostküste verboten werden sollte, in ihre Küstendörfer zurückzukehren, um internationalen Hausinvestoren den Bau von Hotels an diesen Stränden zu ermöglichen. An beiden Orten hat der Aufbau des Tourismus eine enorme Menge an Arbeitsplätzen gekostet.

Der Tourismus schafft also nicht nur Arbeitsplätze, sondern vernichtet sie auch und ersetzte unabhängige Arbeitsplätze durch solche, die vom internationalen Markt abhängig sind. Statt in neue koloniale, imperialistische Infrastrukturen würden der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und das chinesische "One Belt one Road" also besser in die Lebens- und Wirtschaftsgrundlage der lokalen Bevölkerung investieren. Denn dort gibt es Arbeitsplätze, dort gab es Arbeitsplätze und dort sollte sie auch in Zukunft geben.

"Der gesamte Tourismussektor sollte dazu verpflichtet sein, z. B. 5 Prozent auf die Preise aufzuschlagen, die den lokalen Gemeinden  in den Reisedestinationen zugutekommen, damit diese eine widerstandsfähigere Lebensgrundlage aufbauen können."

Sie sagen also, dass es wichtiger ist, den Menschen ihre Arbeitsplätze zurückzugeben, die sie durch den Tourismus verloren haben, als ihre jetzigen Arbeitsplätze im Tourismus?

Teilweise. Wenn eine Krise kommt, wie 2008 oder jetzt mit Covid, dann geben die Reiseveranstalter den westlichen Kundinnen und Kundenihr Geld zurück, während sie auf der anderen Seite aufhören, ihr lokales Personal zu bezahlen – obwohl diese Kosten nur ein paar Prozent der Gesamtkosten der Buchungen ausmachen. Der Tourismus sollte schon bestehen bleiben, aber zu besseren Bedingungen! Sowohl wir als Reisende als auch Buchungsplattformen tragen dabei eine Verantwortung. Als Beispiel: booking.com hatte 2019 einen Gewinn von fünf Milliarden Dollar gemacht. Als sie sahen, dass ihr Umsatz im April 2020 aufgrund der Corona-Krise sank, baten sie die Regierung, für ihre Mitarbeitenden in den Büros den Lohn zu zahlen – welche im Schnitt wohlgemerkt rund 50’000 Euro pro Jahr verdienen. Diese wurden dann auch bezahlt. Aber haben sie die lokalen Hotels im globalen Süden für ihre Verluste entschädigt? Nein, das haben sie nicht.

Die grossen Tourismusunternehmen kümmern sich also nur um ihre Anteilseigner und Aktionäre, nicht aber um die lokalen Eigentümer wie die Hotelbesitzer. Deshalb bin ich der Meinung, dass Reiseveranstalter und Buchungsplattformen für die Arbeitsplätze dieser Menschen aufkommen sollten. Wenn sie mehr Verantwortung übernehmen würden, dann wären die lokalen Arbeitsplätze im Tourismus auch weniger gefährdet. 

Was schlagen Sie also vor, um die Arbeitsplätze im Tourismus wiederherzustellen? Oder glauben Sie, dass das keine gute Idee ist?

Wir müssen eine andere Art von Tourismus schaffen, bei dem die Reiseziele eine zentrale Rolle spielen. Wir haben eine markt- und geldbasierte Wirtschaft geschaffen, die es vorher nicht immer gab. Als Reisende haben wir die Macht zu entscheiden, ob wir eine Reise kaufen wollen oder nicht. Wir zahlen zum Beispiel immer einen Prozentsatz extra in einen Notfallfond ein, um unser Geld im Falle einer Krise zurückzubekommen. Der gesamte Tourismussektor sollte dazu verpflichtet sein, z. B. 5 Prozent auf die Preise aufzuschlagen, die den lokalen Gemeinden in den Reisedestinationen zugutekommen, damit diese eine widerstandsfähigere Lebensgrundlage aufbauen können.

Das Reisen ist für Reisende viel zu billig geworden, während es für diejenigen, im globalen Süden darauf angewiesen sind, viel zu teuer und zu riskant geworden ist. Dieses Verhältnis muss umgekehrt werden, um den Tourismus für die Einheimischen in den Reisedestinationen profitabel zu machen. Und das ist etwas, was wir sowohl von unseren Gesetzgebern als auch von unseren Reiseveranstalterverbänden verlangen sollten.

Wäre die Digitalsteuer für Buchungsplattformen eine Lösung?

Es hängt ganz davon ab, wofür die Steuer verwendet werden würde. Tourismussteuern werden zum Beispiel nicht immer dazu verwendet, den Tourismus zu verbessern. Effektiver wäre es, auf Reisen eine Steuer zu erheben, die dem Kampf gegen den Klimanotstand gewidmet ist. Wir müssen in die Herstellung von synthetischem Kerosin investieren, anstatt fossile Brennstoffe zu verwenden. Auch das Erstellen eines Budgets für lokale Tourismusgemeinschaften, die vom Tourismus und unserem Reiseverhalten abhängig sind, erscheint mir zentral zu sein.

"Weltweit sagen 70 bis 75 Prozent der Reisenden, dass sie sich einen verantwortungsvollen Tourismus wünschen und dass sie gerne nachhaltig reisen möchten, aber fast niemand tut das. Die meisten wählen die billigste Art des Reisens, denn das ist es, was die Reiseveranstalter und Buchungsplattformen anbieten."

Was können Reisende tun, um den Tourismus für die Destinationen nachhaltiger zu gestalten?

Es gibt Hoffnung, denn viele tausende kleine Reiseveranstalter setzten sich bereits jetzt für die Nachhaltigkeit und ihre Mitarbeitenden in den Reisedestinationen ein. Trotzdem: Weltweit sagen 70 bis 75 Prozent der Reisenden, dass sie sich einen verantwortungsvollen Tourismus wünschen und dass sie gerne nachhaltig reisen möchten, aber fast niemand tut das. Die meisten wählen die billigste Art des Reisens, denn das ist es, was die Reiseveranstalter und Buchungsplattformen anbieten. Sie werben mit und konkurrieren über den Preis. Wir müssen aufhören, die billigste Reise zu wählen und dadurch die Menschen in den Reisedestinationen von unseren marktgesteuerten Konzepten abhängig zu machen. Es ist wichtig, dass NGOs wie der Good Travel Guide oder fairunterwegs andere Werte im Tourismus hervorheben und den Reisenden die Realität des jetzigen Tourismus aufzeigen. Wir müssen ausreichend gute Alternativen anbieten, daran mangelt es allerdings. Wir müssen Reisenden mehr Möglichkeiten aufzeigen, wie sie Gutes tun können.

Haben Sie deshalb den Good Travel Guide gegründet?

Ja, genau.

Letzte Frage: Was können die Reiseveranstalter tun?

In der Mehrheit versuchen sie bereits das Richtige zu tun. Einige Reiseveranstalter haben bereits versucht, ihre Preise zu erhöhen, um zum Beispiel die Kohlenstoffemissionen zu kompensieren. Ich denke, dass einige von ihnen auch bereit sind, ihre lokalen Mitarbeitenden besser zu bezahlen. Dies sollten sie auch klar deklarieren und nicht bloss sagen "wir sind nachhaltig". Sie sollten erzählen, inwiefern sie nachhaltig sind und wie sie das genau bewerkstelligen.

"Die Jobs in der Tourismusindustrie sind oft unterbezahlt und nahe an der Sklaverei."