Suad Amiry: Sharon und meine Schwiegermutter
Basel, 09.05.2008 Beim Fest des abendlichen Fastenbrechens im Spätherbst 2001 wird im Freundeskreis noch darüber spekuliert, mit welchen strategischen Manöver Sharon und seine Regierung zum Angriff auf das Hauptquartier Arafats oder der erneuten Besetzung einiger Stadtviertel von Ramallah ansetzen werden. „Am nächsten Morgen war natürlich beides eingegetreten“, kommentiert die palästeninensische Dozentin für Architektur und Friedensaktivistin Suad Amiry trocken: Panzerfahrzeuge im eigenen Quartier, gleich vor der Haustür, und der Angriff auf Arafats Hauptquartier direkt gegenüber der Wohnung der 90-jährigen Schwiegermutter. Die alte Dame muss versorgt und im Frühjahr darauf gar evakuiert werden, nachdem sie wegen der Belagerung von Arafats Hauptquartier elf Tage ohne Telefon, Strom und Wasser ausharren musste. Kein einfaches Unterfangen, die Schwiegermutter rauszuholen während der wenigen Stunden, in denen alle paar Tage die Ausgangssperre „aus humanitären Gründen“ aufgehoben wird und sich die Bevölkerung unter scharfer Bewachung der israelischen Armee hektisch mit Lebensmitteln und Medikamenten eindeckt. Nicht weniger einfach das bedrängte Zusammenleben während der nächsten 34 Tage mit der traumatisierten Schwiegermutter, die ihren Begonien nachtrauert, die sie zurücklassen musste, und zu fixen Zeiten aus dem Geschirr der richtigen Grösse essen will.
Mit bissigem Scharfsinn und doch voller Humor schildert Suad Amiry in ihrem Tagebuch die Zeit von November 2001 bis September 2002, als die israelische Armee mehrere Male in Ramallah einrückte und die Stadt besetzte. Ohnmächtig muss sie am Fernsehen mitverfolgen, wie unschuldige Kinder und Frauen umkommen, zahlreiche Häuser und Olivenhaine in palästinensischen Ortschaften, ganze Quartiere in Jaffa und Jerusalem, vor allem aber die Altstadt von Nablus zerstört werden, die sie mit ihren KollegInnen vergeblich zu besuchen versucht. Sie berichtet vom Alltag unter der Besatzung, von Angst und Tod, den unzähligen Schikanen, den bangen Telefonaten und hastigen Treffen mit FreundInnen, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Ihre Wut gegen die Ungerechtigkeit, ihre Trauer über die sinnlose Zerstörung von Leben und kulturellem Erbe sind deutlich spürbar. Doch ohne vereinfachende Schuldzuweisungen oder quälende Opfer-Rhetorik. Denn Suad Amiry erzählt einfach ihre Geschichten aus Familie und Besatzungsalltag, dies mit feiner Selbstironie, die über die Tragik hinaus auch die Absurdität und Skurrilität der Situation nachzeichnet. Das macht ihr Tagebuch auch so überzeugend und wertvoll.
Suad Amiry: Sharon und meine Schwiegermutter, Tagebuch vom Krieg aus Ramallah, Palästina, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M. 2004, 144 Seiten, CHF 14.90, Euro 7.90, ISBN 978- 3-596-16517-2